10. Europäische Literaturtage in der Wachau

"Manche Filmfiguren sind besser geworden als meine Romanfiguren"

27. November 2018
von Nicola Bardola
An mehreren Veranstaltungsorten in Krems und Spitz fanden vom 22. bis 25. November unter dem Motto "Literatur & Film" die zehnten Europäischen Literaturtage statt. Im Mittelpunkt stand der interdisziplinäre Austausch zwischen Kulturschaffenden zum Thema Literaturverfilmungen.

Unterstützt durch das EU-Projekt "Literaturhaus Europa" hat sich die Wachau zur Region internationaler Vernetzung für Literaten etabliert. Bei der Jubiläumstagung lautete eine der zentralen Fragen: Führen Erzählräume im Roman zwangsläufig zu komplexeren Protagonisten als deren verkürzte Darstellungen im Kino? "Der Film 'Die Habenichtse' gibt keine Deutung des Romans 'Die Habenichtse', sondern treibt ihn auf die Spitze", sagte die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2006 Katharina Hacker. Ihr Roman wurde zehn Jahre danach von Florian Hoffmeister verfilmt. Hacker hätte die Möglichkeit gehabt, am Drehbuch mitzuarbeiten, lehnte das Angebot jedoch ab. "Sie sind so geduldig", sagte der rumänische Romancier und Drehbuchautor Răzvan Rădulescu, dessen Roman "Theodosius der Kleine" 2011 den Europäischen Literaturpreis gewann. Als seine Prosa verfilmt werden sollte, wollte Rădulescu genau wissen, was der Regisseur mit seinen Geschichten plante.

Unrettbare Protagonisten

"Ich bin ein Kontrollfreak", sagte Rădulescu, der heute Dramaturgie an der Kunstakademie in Karlsruhe unterrichtet. Katharina Hacker verteidigte ihre Zurückhaltung: "Manche Filmfiguren sind besser geworden als meine Romanfiguren", sagte die deutsche Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Hebräischen, die anlässlich der Literaturtage den Aufsatz "Verzwicktes Glück. Komplexität und Film" veröffentlichte. Auf dem Podium zitierte Hacker Goethes Werther mit dem Schmerzenssatz: "Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles", worauf Rădulescu konterte, er habe seine intensivsten Glücksgefühle, wenn er sich selbst nicht mehr fühlt, wenn Emotionen über seine Körpergrenzen hinausgehen. Die Nähe von Leid und Euphorie, von Frustration und Zufriedenheit einte aber die beiden bei ihren Erklärungen zu (Happy-) Endings: Retten könne weder die Literatur noch der Film die Figuren. Ziele des literarischen und filmischen Erzählens seien überraschende Erkenntnisse dank Imagination und das Überleben der Charaktere mittels entsprechender Darstellungen, was Rădulescu anhand des Films "Tuesday After Christmas" ausführte.

Zu viel Sprache im Film

Der Roman "Der Kapellekensweg" des flämischen Autors Louis Paul Boon (1912−1979) war Anlass für den niederländischen Regisseur und Drehbuchautor André Schreuders die Handlungsorte des erstmals 1953 veröffentlichten Romans über Jahrzehnte hinweg mit der Kamera zu besuchen und die Veränderungen in Relation zu den ursprünglichen Schilderungen zu setzen. Dabei tritt die Prosa Boons in einen Dialog mit den filmischen Wahrnehmungen Schreuders.

Der 1967 geborene Produzent von Low-Budget Filmen setzt zurzeit Texte des russischen Dichters Daniil Charms (1905−1942) für die Leinwand um. Wie bei Boon versucht Schreuders nun die Aussagen des Avantgardisten Charms umfassend mit der Kamera festzuhalten.

In seinem hohen Anspruch ist der Niederländer vergleichbar mit dem 1965 geborenen Schweizer Schriftsteller Tim Krohn, der sein Crowdfunding-Projekt "Menschliche Regungen" präsentierte. Eine lange Liste von Gefühlen wartet darauf, von Krohn in Geschichten verwandelt zu werden. Drei Bände sind bislang im Verlag Galiani erschienen, der vierte ist geschrieben, aber seine Veröffentlichung ungewiss und rund fünfzehn Bände würde das vollständige Werk beanspruchen. Bei beiden, Schreuders und Krohn, bleibt die Frage offen, ob sie mit adäquaten Methoden versuchen, das Leben künstlerisch festzuhalten. Im Dialog verteidigten sie ihre ambitionierten Ziele und übten zugleich Selbstkritik: Zu viel Sprache im Film bei Scheuders, zu viel Gefühl in der Prosa bei Krohn.

Das Leben ist ein Motorrad

Die ungarische Drehbuchautorin und Regisseurin Ildikó Eneydi ("Körper und Seele") und ihre bosnische Kollegin Jasmila Žbanić ("Love Island"), erstere mit dem Goldenen Bären der Filmfestspiele in Berlin ausgezeichnet, letztere nominiert, konzentrierten sich in ihrem Gespräch auf Orte der Liebe, vom Schlachthof bis zum All-Inklusiv-Hotel. Die britische Drehbuchautorin Olivia Hetreed ("Das Mädchen mit dem Perlenohrring") und die österreichische Kollegin Kathrin Resetarits ("Licht") diskutierten über die Übertragung (un-)glücklicher Liebe von der Literatur auf die Leinwand.

Die künstlerische Assistentin Michael Hanekes Kathrin Resetarits verteidigte dabei themengetriebene Verfilmungen im Gegensatz zu plot- und personengetriebenen Drehbüchern. Die Präsidentin der "Writers‘ Guild of Britain" Olivia Hetreed erklärte, wie sie aus einem einzelnen Satz in Emiliy Brontës "Sturmhöhe" eine Schlüsselszene ihrer hochgelobten Neuverfilmung von 2011 machte, in der erstmals ein schwarzer Schauspieler, James Howson, die Rolle Heathcliffs übernahm. "Das Leben ist ein Motorrad, die Liebe ist das Benzin", zitierte Enyedi den Pfarrer, der ihre Hochzeit organisiert hatte. Das Motto begleite sie seither bei jedem Film. Die vier Frauen berichteten auch von ihren Schwierigkeiten, sich bei ihrer Arbeit gegen Männer durchzusetzen. Es habe sich in der Summe seit Jahrzehnten in der Filmbranche nichts verbessert.

Vea Kaiser las bei einer literarisch-musikalischen Soirée aus ihrem im Januar 2019 erscheinenden neuen Roman "Rückwärtswalzer" und aus ihrem Debüt "Blasmusikpop", das zurzeit verfilmt wird, allerdings erst ab Seite 270, denn die Vorgeschichte habe das Filmteam nicht überzeugt, so Kaiser. Es schwingt Bitterkeit in ihren Schilderungen mit. Wie Katharina Hacker hielt sie sich von den Drehbucharbeiten fern. Lediglich ein wortloser Cameo-Auftritt als Nordic-Walkerin gönnt sich Kaiser.

Ehrenpreises des Österreichischen Buchhandels

Der Hauptveranstaltungsort war das revitalisierte Schloss zu Spitz unter dem Tausendeimerberg. Der heutige Bau stammt aus der Renaissancezeit. Ein reichhaltiges Rahmenprogramm fand u.a. im Kino im Kesselhaus und im Karikaturmuseum in Krems statt. Weitere Referenten waren u.a. Ilinca Florian, Nino Haratischwili, Madame Nielsen, Carmen Stephan und Ivica Dikić.

Eröffnet wurden die Europäischen Literaturtage in der aus dem 13. Jahrhundert stammenden und seit dem 18. Jahrhundert säkularisierten Minoritenkirche in Krems mit einem Gespräch zur Frage, was den Wert des Menschen ausmacht. Der Autor Robert Menasse und der Philosoph Richard David Precht eilten auf der Suche nach einer gerechten Gesellschaft durch die Jahrtausende, um bei aktuellen Fragen nach gesellschaftlichen Veränderungen durch zunehmenden Populismus und künstlicher Intelligenz vor Resignation zu warnen.

Abgeschlossen wurde das Festival mit einer Literarisch-musikalischen Matinée und der Verleihung des Ehrenpreises des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln an Ilija Trojanow. Anwesend waren auch Teilnehmer der parallel stattfindenden Dialog Konferenz der eljub, Europäische Jugendbegegnungen. In Zukunftswerkstätten werden von Jugendlichen nach dem Bottom-Up-Prinzip Ideen für den europäischen Zusammenhalt entwickelt.