Rachel Salamander zum 70.

"Die schöne Stimme der Vernunft"

30. Januar 2019
von Börsenblatt

Rachel Salamander ist Buchhändlerin, Kosmopolitin, für manche gar eine "Erzengelin" des Wissens und der Worte. Gerade hat sie Ehrenbügerschaft der Stadt München erhalten. Heute, am 30. Januar, wird die Gründerin der jüdischen Literaturhandlung in München 70 Jahre alt. Ulla Unseld-Berkéwicz wünscht ihr alles Gute – und, gerade jetzt, den Friedenspreis.

Geh da hin, sagte Koeppen, lies da, sagte er, du musst da vorlesen, die Literaturhandlung ist die erste jüdische Buchhandlung in Deutschland, die beste Buchhandlung, die ich kenne. Du findest dort Bücher, die du sonst nirgendwo findest und die ich lesen will, und die, die du überall findest und die ich nicht lesen will, findest du dort nicht. Sag ihr zu, dieser schönen Salamander, sie ist eine Erzengelin mit Wissen und Worten bis an die Zähne gerüstet. Ich gehe oft da hin, sagte er, denn dort ist mir, als säße ich 1925, ’28, ’32 im Charlottenburger Romanischen Café, in dem ich damals meine schöne Zeit der Not versaß, unter den Gescheiten, die dann der Teufel holte. Er nimmt einen Schluck Carlos Primero. Sitze jetzt also gelegentlich gern eine Zeit oder zwei in dieser Schwabinger Handlung fest, einem kleinen Schiff mit großer Geistesfracht, in der vagen Hoffnung – er unterbrach sich. Auf was, fragte ich. Er antwortete nicht und trank noch einen Schluck Carlos Primero.

Ein paar Monate später, es wird wohl 1983 gewesen sein, begleitete er mich zu meiner Lesung in die Münchner Fürstenstraße. »Eine wunderbare Vorkriegsmischung aus Kaffeehaus, Philosophenclub und Weltbühne«, wie Frank Schirrmacher die Literaturhandlung beschrieb. Und da stand die schöne Rachel, stand da gleich neben der Tür, inmitten all der Gescheiten, lustig, geistreich und frei. Und als in der Früh die Schwabinger Hähne krähten und sie immer noch inmitten der Gescheiten stand, immer noch geistreich und strahlend, trollten wir uns und tanzten draußen vor der Tür noch eine Runde oder zwei.

Die schwarz-braunen Kader  Fast 40 Jahre waren vergangen seit dem sogenannten Ende der Naziherrschaft; die Entnazifizierungsfarce war 1951 abgebrochen worden und das »131er-Gesetz« erlassen, kraft dessen »verdrängte«, das heißt nach Kriegsende entlassene Beamte Anspruch auf Weiterbeschäftigung erhielten. Die schwarz-braunen Kader saßen wieder im Staatsapparat und trugen den Totenkopf nicht mehr am Hut, sondern unter der Haut, die Schulbücher endeten mit der Weimarer Republik, und die echten falschen Gefühle wurden mit amerikanischem Akzent neu besungen. Von 1950 bis 1989 unterstützten die jeweiligen Bundesregierungen die im Ausland inhaftierten Naziverbrecher. Das Bonner Engagement umfasste regelmäßige Versendungen von Weihnachtspäckchen mit deutscher Mettwurst, hohe finanzielle und rechtliche Hilfeleistungen, Gnadengesuche bei den Regierungen der zuständigen Haftländer sowie Amnestieforderungen von höchster Ebene aller regierender Parteien, mit der Folge eines weitgehenden Stillstands der Strafverfolgung von NS-Verbrechen. Weite Teile der Bevölkerung, Publizisten und Politiker forderten damals, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen.

Die Mettwürste wurden bis ’89 verschickt. Derweil hatte Ignatz Bubis seine Geschäfte an den Nagel gehängt, war ausgezogen gegen das Vergessen und zitierte aus dem Buch seiner Väter, in dem geschrieben steht, das Geheimnis der Erlösung sei die Erinnerung. Zog von Dorf zu Stadt, von Schulzimmer zu Hörsaal und erzählte, was in den Schulbüchern nicht zu lesen stand. Rachel Salamander hatte sieben weitere Buchhandlungen eröffnet und veranstaltete in den öffentlichen Räumen des Landes unzählige Lesungen und Diskussionen mit den großen Dichtern und Denkern unserer Zeit. Das jüdische Geis­tesleben, es schien im Begriff, dem verlorenen Land aus seiner kulturellen Isolation, aus seiner Enge, seiner Provinzialität herauszuhelfen.

Die schwarz-braunen Kader im Staatsapparat starben allmählich aus. Und die Alten, die, die erlebt hatten, wie schnell moralische Instanzen schwinden und die Induzierten mit Vernunft nicht mehr zu erreichen sind, die Alten, die seither in der Angst gelebt hatten, dass eine »neue große Zeit ihre Begeisterten und ihre Mörder finden wird«, wie es bei Koppen zu lesen steht, sie schoben die Matzen nicht mehr unter den Kleiderschrank, wenn die Putzfrau kam, sondern ließen sie auf dem Küchentisch stehen.

Rachel Salamander war längst zur engen Beraterin Siegfried Unselds geworden, nicht nur für den Jüdischen Verlag, den jener gemeinsam mit Ignatz Bubis neu gründete. Die Suhrkamp-Kultur, von Siegfried Unseld erfunden und durch den großen jüdischen Gelehrten George Steiner benannt, hatte weiten Raum gegriffen, und gemeinsam erfanden sie nun Programme, Konzepte, Verlagsstrategien. Nicht selten rief Reich-Ranicki an und erkundigte sich, ob die beiden wohl schon wieder oder immer noch zusammensäßen. Nachdem die »Literarische Welt« als Beilage der »Welt« neu gegründet worden war, bezeichnete er Rachel Salamander als »denkbar beste Herausgeberin«.

Dreizehn Jahre lang blieb sie Herausgeberin der »Literarischen Welt« und machte sie zu einem der wichtigsten Foren der literarischen Welt. Zahlreiche Ehrungen und Preise wurden ihr zuteil. 2013 wurde sie von Frank Schirrmacher ins Leitungsgremium des »FAZ«-Literaturforums berufen. Seit 2015 ist sie stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende des Suhrkamp Verlags.

»Genie der Freundschaft«  Wie wurde Rachel Salamander, die Siegfried Unseld als die schöne Stimme der Vernunft zu bezeichnen pflegte, zu der, die sie geworden ist? Wie wurde sie zu jener Kosmopolitin, die wie keine sonst das literarische Leben um sich konzentrierte? Wie wurde sie zu dem »Genie der Freundschaft«, als das sie Frank Schirrmacher 2013 in seiner Laudatio zur Verleihung des Marbacher Schillerpreises bezeichnet hatte, »das nie vergisst, dass es Feinde gibt. […] Eine, was Geistesgegenwart, Witz und literarische Leidenschaft angeht, wahrhaft Seelenverwandte Reich-Ranickis, vernetzt mit der Weltliteratur wie nur wenige andere«?

1949 im »Displaced-Persons-Camp« für den »Rest der Geretteten« in Deggendorf geboren, wuchs sie als »heimatlose Ausländerin« mit dem Etikett einer Deplatzierten versehen, zusammen mit den ihren deutschen Mördern entkommenen Eltern und dem Bruder in ärmlichsten Verhältnissen auf. Ihre Mutter, aus dem Warschauer Ghetto geflohen und krank im DP-Lager angekommen, starb 1953. Nach der Auflösung des DP-Lagers Föhrenwald, in das sie später mit Vater und Bruder umquartiert wurde, zog sie nach München. Sieben Jahre Lagerleben lagen hinter ihr. Später studierte sie an der dortigen Universität Philosophie, Germanistik und Romanistik und promovierte über den »Verstehensbegriff« – was sonst! 1992 erhielt die heimatlose Ausländerin ihre ersten deutschen Papiere. »Niemand«, so sagte Frank Schirmmacher in seiner Rede weiter, »außer denen, die so heranwuchsen, kann wirklich ermessen, was eine solche Sozialisation in einer Sozietät, in der noch viele der Täter unbehelligt frei umherlaufen, wirklich bedeutet.«

Es ist hohe Zeit  Maxim Biller rief vor ein paar Jahren in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« den damaligen Vorsteher des Börsenvereins auf: »Bitte sorgen Sie dafür, dass Rachel Salamander den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommt!« Jenen Preis, der 1949 gestiftet wurde, um »Deutschland aus seiner kulturellen Isolation herauszuholen und das humanistische Gedankengut wieder in die Gesellschaft einzubringen«. Lieber Herr Riethmüller, eben das hat Rachel Salamander getan. Und jetzt, da schwarz-braune Kader wieder im Parlament sitzen und »auf dem Kompost die Vergangenheit arbeitet und stinkt«, wie Koeppen schrieb, jetzt, da zu viele Stimmen von Nachgeborenen zu laut werden, die meinen, sie seien »da raus« – Ralf Rothmann sagte in seiner Dankesrede für den Uwe-Johnson-Preis 2018 »[…] man wird letztlich nie nachgeboren, man wird immer hineingeboren in die Geschichte, […] und wie sich die Ängste der Vorfahren vererben so ihre Untaten« –, und erneut ein Schlussstrich gefordert wird, ist es hohe Zeit, an Maxim Billers Aufruf zu erinnern.

 

Frauen werden heute oft jünger, wenn sie älter werden, was weiß ich wieso, und bleiben oft schöner, als sie waren. Liebe Rachel, ich beglückwünsche Dich zu Deinem 70. Geburtstag, auch im Namen des Suhrkamp Verlags und seiner Autoren. Ich danke Dir und verbeuge mich vor Dir.