Eine Reise in die tschechische Jugendbuchszene

"Offline ist der neue Luxus"

7. Februar 2019
von Börsenblatt
Tschechien, das Gastland der diesjährigen Leipziger Buchmesse, hat eine Jugendbuchszene, die durch ihren visuellen Reichtum verblüfft – und YouTube mit opulenten Sachbüchern die Schau stiehlt. Unser Leipzig-Korrespondent Nils Kahlefendt war dort.

Malý Berlín ("Klein Berlin") nennen die Prager den Ende der 30er Jahre erbauten Wohnblock unterhalb des Letná-Hügels. Um hier mit Frau und elfjähriger Tochter wohnen zu können, braucht Radek Malý zwei Hochschuljobs. Malý, Jahrgang 1977, gilt als renommierter Lyriker für Erwachsene und Kinder – eine seltene Doppelbegabung. In beiden Disziplinen hat er bereits den einflussreichsten Literaturpreis des Landes, Magnesia Litera, abgeräumt. Dass er nun mit dem Jugend­sachbuch "Franz Kafka. Ein Mensch seiner und unserer Zeit" erfolgreich ist, verdankt sich einem Traum – und der Zusammenarbeit mit der grandiosen Illustratorin Renáta Fučíková. Der kleine Verlag Práh hat den Band, eher ein prachtvoll illustriertes Bilderbuch, auf Tschechisch, Englisch und Deutsch produziert – vor allem mit Blick auf die Touristen. All-age-Titel liegen im Trend, auch hier. Dass der Kafka-Band in einer Buchreihe über die "Größten Tschechen" erschienen ist, findet Malý mit Blick auf den waltenden Zeitgeist "beinahe subversiv".

Iva Procházková hat viel zu tun. Am Vorabend unseres Gesprächs hat sie in Prag die Rohfassung der tschechisch-deutschen Kino-Koproduktion "Orangentage" gesehen. Der Film, für den sie das Drehbuch geschrieben hat, entstand nach ihrem 2012 erschienenen Roman und hat im März in Leipzig Premiere. Als Jugendbuchjurorin für den Literaturpreis Magnesia Litera hat sie in den vergangenen Wochen mehr als 50 neue Titel gelesen. "Ich freue mich, dass eine neue Generation von Autoren Lust hat, für Kinder zu schreiben", sagt Procházková. Die 1953 geborene, 1983 mit ihrer Familie in den Westen emigrierte und seit 1995 wieder in Prag lebende Schriftstellerin gilt als die bedeutendste Figur der zeitgenössischen tschechischen Jugendbuchszene.

Obwohl sie mit ihren Büchern für die realistische Schilderung jugendlichen Lebens in der postsozialistischen Gesellschaft steht, sieht sie im "Realismus, in dem das Magische immer seinen Platz hat", eine Konstante der tschechischen Literatur. Während in den Kinderbuchwelten der Bundesrepublik seit den 70ern vorübergehend Phantastisches verpönt war, ließ man sich im Land von Hašek und Hrabal den "magischen Realismus" auch in kommunistischen Zeiten nie austreiben. Wie das funktioniert, hat die vor Anekdoten sprühende Dame immer noch drauf: Die tschechische Kinder- und Jugendliteratur hat mit Iva Procházková eine so gewitzte wie leidenschaftliche Botschafterin. 

Eine wie sie wird gebraucht: Von den rund 70 Neuübersetzungen, die im Umfeld des tschechischen Gastlandauftritts zur Leipziger Buchmesse im März erscheinen, gehören weniger als eine Handvoll in die Kinder- und Jugendliteratur. Ein Feld, auf dem die ČSSR wie beim Kinderfilm einst Exportweltmeister war: Bei älteren Semes­tern genießen Zdeněk Milers Kleiner Maulwurf, Kater Mikesch und Pan Tau noch immer Kultstatus. Nach Jahren der Flaute ist wieder frischer Wind bei unseren Nachbarn zu spüren: "Kopf im Kopf" (Karl Rauch Verlag) von Illustrator David Böhm und Autor Ondřej Buddeus ist derzeit eins der schlausten und schönsten Kindersachbücher und wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2017 nominiert; mit dem Kinderroman "Tippo und Fleck" und dem Wimmelsachbuch "Wie kommt die Kunst ins Museum" (beide 2018) avancierte der Karl Rauch Verlag zu einem Motor im tschechisch-deutschen Kinderbuchtransfer.

Verlagsleiter Gerd Koch, auch Herausgeber der Kritischen Kafka-Ausgabe bei S. Fischer, hatte vor allem durch die 2015 verstorbene Kafka-Nichte Věra Saudková gute Verbindungen Richtung Prag, die auch für das von Koch "Familienbuch" genannte Segment fruchtbar gemacht wurden: "Es gibt da wunderbar gestaltete, sehr pfiffige Bücher, die sich von der angloamerikanischen Erzähltradition deutlich unterscheiden." Das macht ihre Durchsetzung auf dem deutschsprachigen Markt nicht einfacher. Helga Preugschat, bewährte Trüffelsucherin bei S. Fischer, entdeckte die wunderbar schrägen "Sockenfresser" von Pavel Šrut und Illustratorin Galina Miklínová eher per Zufall – fast zehn Jahre nach Erscheinen der Originalausgabe.

Seit Ondřej Buddeus Chefkoordinator von CzechLit, dem tschechischen Literaturzentrum, ist, muss der Autor hinter den Kulturmanager zurücktreten. Buddeus hat einen sehr klaren Blick auf die Trends im Jugendbuchmarkt – etwa auf das boomende Sachbuch mit fiktionalen Elementen, grafisch opulent umgesetzt und für Buddeus eine Gegenbewegung zur Welt der YouTube-Videos. Petr Stančíks Buch "H2O und die geheime Wassermission", illustriert von Galina Miklínová, gehört ebenso hierher wie das neueste Projekt David Böhms, der gerade unter Hochdruck an einem Werk über die Antarktis arbeitet, die er mit seinen Söhnen bereist hat.

Eine "Slow-Culture-Bewegung", so Buddeus, die dem Prinzip Buch entgegenkommt: "Offline ist der neue Luxus." Wenn man sich die Hall of Fame der wichtigsten tschechischen Jugendbuchpreise anschaut, fällt der unglaubliche visuelle Reichtum ins Auge, großartige Illustration und Typografie.

Zu sozialistischen Zeiten verfügten Häuser wie Albatros oder Mladá fronta auch über die größten Jugendbuchprogramme. Wer nach Innovationen sucht, muss den Kompass neu justieren: Host, Mitte der 90er von drei Freunden in Brno gegründet und heute so etwas wie das tschechische Pendant zu Suhrkamp, residiert im schicken Loft auf dem Gelände einer ehemaligen Textilfabrik. Seit drei Jahren strickt man hier auch an einem kleinen Kinderbuchprogramm. Die Strategie des Cheflektors Miroslav Balaštík: Neben Auslandslizenzen werden Autoren aus dem Erwachsenensegment gezielt fürs Kinderbuch rekrutiert – im Fall von Petra Soukupovás Detektivgeschichte "Wer tötete Schneeflocke" (2017) mit Erfolg.

Die drei mit Abstand spannendsten Indie-Verlage findet man in Prag nur wenige Straßenbahnhaltestellen voneinander entfernt. Im Dezember hat Meander, 1995 von Iva Pecháčková gegründet, zwischen Vyšehrad und Moldau einen Showroom eröffnet – passenderweise neben einer Schule. An die 300 Titel wurden bislang veröffentlicht, darunter Václav Havels einziges Märchen ("Die Knallköpfe") und die großformatigen Bände des Künstlers Petr Nikl – begehrte Sammlerobjekte, die man vor den lieben Kleinen schon mal wegsperrt.

Rund 40 Titel erscheinen pro Jahr, "jedes Buch", sagt Pecháčková, "ist eine Herausforderung". Das Programm ist in vier Reihen strukturiert: Blauer Elefant, die älteste, hat den Verlag bekannt gemacht; Pro Emu (Für Ema) ist nach der Tochter der Verlegerin benannt und umfasst Comics. In der kleinformatigen Reihe Manamana sind bislang 22 Geschichten des Alten Testaments erschienen, illustriert von jungen Talenten aus den Kunstakademien. Tolle Projekte, für die das Budget nicht ausreicht, werden hin und wieder über Crowdfunding-Plattformen wie hithit.com von den Künstlern selbst finanziert.

Der Verlag Baobab, 2000 von Künstler Juraj Horvath und seiner Frau Tereza gegründet, residiert eigentlich im südböhmischen Tábor, hat aber seit zwei Jahren auch einen wunderbaren Buchladen in Prag. Der charismatische Horvath leitet das Atelier für Illustration an der Prager Kunstakademie und hat in knapp 20 Jahren die interessantesten jungen Künstler mit ebensolchen Autoren vernetzt und zu einer verschworenen Gemeinschaft geformt. Dazu holt Horvath große Namen aus dem Ausland ins Programm, das pro Jahr um 20 Titel wächst: Der Franzose Blexbolex ist dabei, und eine mit der Miroslav Šašek Foundation herausgegebene Reihe von Städtebüchern wird bald um einen Berlin-Band von Henning Wagenbreth reicher.

Barbora Čermáková aus dem Baobab-Team erinnert daran, wie wichtig eine neue, urbane, wache Elterngeneration für den Erfolg ist. Keine rosa Prinzessinnen, nirgends: "Wir sind mit unseren Lesern gewachsen." Für drei Tage im Jahr organisiert Baobab Ende September in Tábor das grösste Kinderbuch- und Illustrationfestival in Tschechien (www.tabook.cz/en).

Joachim Dvorak, der mit seinem vor 27 Jahren gegründeten Verlag Labyrint Autoren wie Lenka Reinerova oder Jaroslav Rudiš entdeckte, ist so etwas wie der Inbegriff des Independent-Verlegers: raue Schale, großes Herz. 20 Bücher macht er im Jahr, eine Handvoll davon in dem vor 15 Jahren gestarteten Jugendbuch-Imprint Raketa. "Das ist wenig, aber so können wir uns auf jeden einzelnen Titel konzentrieren. Wir sind keine Buchfabrik!" Der erste Titel war ein Knaller; Peter Sís' "Der Baum des Lebens", ein Bilderbuch über Charles Darwin, gewann Gold in Bologna.

Große Aufmerksamkeit widmen Dvorak und seine Mannschaft dem Kindermagazin "Raketa"; es erscheint alle drei Monate in 7.000 Exemplaren, immer zu einem bestimmten Thema, komplett werbefrei, mit den besten Illustratoren aus Tschechien und der Slowakei. "Für die Kids ist es ein Tool zum spielerischen Lernen, daneben ein Inkubator für neue Sterne am Illustratoren-Himmel. Die Kollegen aus Verlagen und Redaktionen schauen da genau hin."

Manchmal ist "Raketa" auch ein Statement: Die Ausgabe über Begriffe wie "Toleranz", die Unterschiede als Teil des Lebens durchdekliniert, wurde auch ins Ungarische übersetzt und kostenlos an Kinder in Flüchtlingscamps abgegeben. Gern hätte Dvorak zum Bücherfrühling in Leipzig eine deutsche Ausgabe produziert; es scheint, als würden sie sich bei Labyrint so auf ihre kreative Aufgabe konzentrieren, dass fürs große Spiel um Zuschüsse und Subventionen keine rechte Zeit bleibt. Im Buchhandel, der sich den Platz an der Ladenkasse häufig bezahlen lässt, sieht es auch nicht rosig aus. "Ein tolles Festival wie das in Tábor macht noch keinen Sommer", brummt Dvorak. "Wir müssen noch sichtbarer werden."