Buchpreisträgerin Inger-Maria Mahlke las in Brüssel

Der publizistische Glücksfall

8. März 2019
von Börsenblatt
Literatur zieht. In Brüssel zog sie jetzt 200 Interessierte an. Auf Einladung des Börsenvereins und der hessischen Europaministerin Lucia Puttrich strömten die Menschen am Mittwochabend zu einer Lesung mit der Trägerin des Deutschen Buchpreises, Inger-Maria Mahlke, in die Landesvertretung. 

Im Publikum saßen Vertreter des Europäischen Parlaments, der Kommission, der Ständigen Vertretung in Brüssel, der deutschen Botschaft – und viele andere Lesefreudige aus der großen deutschsprachigen Community in der Europa-Hauptstadt. Bevor aber Mahlkes Erzählkunst zum Zuge kam, sollte es zunächst politisch werden.

Börsenvereinsvorsteher Heinrich Riethmüller nutzte die Gelegenheit, die Verabschiedung der EU-Urheberrechtsreform noch einmal nachdrücklich zu fordern. Denn auf Grundlage dieser Reform, gegen die die kalifornischen Internet-Giganten seit Monaten mit allen Mitteln Sturm laufen, könne die Verlegerbeteiligung an den Ausschüttungen der Verwertungsgesellschaften endlich wiederhergestellt werden. Für Verlage, so Riethmüller, sei das von existenzieller Bedeutung. Der Vorsteher zeigte sich entgeistert über „die weitgehend faktenfrei“ und noch dazu auf ein irreführendes Schlagwort reduzierte Debatte zu dem Reformvorhaben. „Hören Sie auch auf die Stimmen der Kulturschaffenden, sie haben gute, sehr gute Argumente“, rief der Tübinger Buchhändler den Europapolitikern im Auditorium zu, „auch wenn deren Stimmen vielleicht nicht so laut sind.“

In dieselbe Kerbe schlug Rowohlt-Verleger Florian Illies, bevor er die Gäste in Mahlkes preisgekrönten Roman einführte. Es gehe bei der Novelle um „eine große, notwendige Reform, mit welcher der Schutz geistigen Eigentums in das digitale Zeitalter überführt werden kann“. Illies kritisierte die überzogene Art und Weise, wie die Debatte um diese Gesetzgebung eskaliere: Auf dem Spiel stünden „mittlerweile auch unsere demokratischen Prozesse schlechthin. Wollen wir uns wirklich derart beeinflussbar machen von Hysterie und Shitstorms?“, fragte der frühere Journalist, der selbst ein erfolgreicher Buchautor ist – und warnte vor einem „Missbrauch der Macht der Sprache“, wie sie von den Konzernen im Silicon Valley und ihren Multiplikatoren gegenwärtig orchestriert werde. Illies‘ Gegengift-Rezept: „Wir müssen selbst eine Sprache des Widerstands gegen die Manipulation durch Sprache finden.“ Es wundere ihn, wie wenig bisher von einem solchen intellektuellen Widerstand in den Medien zu lesen und zu spüren sei.

Nach den beiden Intros aus gegebenem Anlass standen dann für anderthalb Stunden der Roman „Archipel“ und seine Autorin im Mittelpunkt. Alf Mentzer, der Leiter der Literaturredaktion von hr2-Kultur, der klug und charmant durch den Abend führte, nannte den Deutschen Buchpreis den „größten anzunehmenden publizistischen Glücksfall“, und Inger-Maria Mahlke stimmte ihm vorbehaltlos zu. Ja, ein Jackpot sei das gewesen, und setzte hinzu: „aber nicht nur für mich, auch für den Verlag“. Zustimmendes Nicken beim Verleger und dem neben ihm sitzenden Rowohlt-Chefkaufmann Peter Kraus vom Cleff.

Mahlke, die studierte Juristin, schilderte, wie sie sich mit ihren Büchern quasi autodidaktisch das literarische Schreiben beigebracht habe. Wohl zum Erstaunen mancher, die von ihr schon etwas gelesen hatten, nannte sie ihre Texte vor dem Buchpreissiegertitel „nur Übungen. Ich musste erst einmal das Handwerk lernen.“ Da darf man es wohl als Indiz für eine gewisse Sonderbegabung werten, dass die Autodidaktin bereits für ihre schriftstellerischen Etüden mehrfach ausgezeichnet wurde. „Archipel“ jedenfalls sei ihr „zentrales Buch“. Dessen Zentrum wiederum ist Teneriffa, wo Mahlke einen Teil ihrer Kindheit verbrachte. Von dort, dem äußersten Rand Europas, erzählt sie in ihrem nuancenreichen Roman rückwärts die Geschichte des Kontinents – von der Gegenwart bis ins Jahr 1919.

Wer geglaubt hatte, das politische Kapitel des Abends sei nach den Statements zum Urheberrecht bereits geschlossen worden, sah sich rasch eines Besseren belehrt. Mahlke und ihr Gesprächspartner Mentzer diskutierten Kolonialgeschichte und ihre Folgen bis heute. Die Franco-Diktatur und ihre nachwirkenden Traumata. Die Insel-Psyche Teneriffas, dieser „Drama Queen“ (Mahlke). Die Lebensgefühle der Wohlhabenden und der Habenichtse. Die Realität von Korruption auf Teneriffa, die in ihrem Fantasiereichtum jeder Fiktion überlegen ist. Die Welten, die zwischen Mahlkes anderer Heimat Lübeck und dem Inselleben vor der Küste Westafrikas liegen. Ein gedankenvoller, höchst lebendiger Abend entspann sich, dessen Themen selbst für die Gastgeber aus Hessen, dem „Literaturland schlechthin“ (Friedrich von Heusinger, der Leiter der Landesvertretung in Brüssel, in seiner Begrüßung) politisch wie kulturell bereichernd gewesen sein dürften.

Literatur zieht. Am Ende der Veranstaltung meldete Silke Grammatikos, die mit ihrer Brüsseler „Event-Buchhandlung“ Buchfink den Mahlke-Büchertisch besorgte: alles vergriffen! Die 30 bevorrateten Exemplare von „Archipel“ hatte sie nach wenigen Minuten verkauft, und hätte die doppelte Menge unter die Leute bringen können.

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