Literatur und Politk auf der Leipziger Buchmesse

"Wozu Dichter in dürftiger Zeit?"

28. März 2019
von Nils Kahlefendt
Hölderlins Frage stellt sich in jeder Epoche neu. Was Literatur, Politik und Gesellschaft in ihrer sensiblen Dreiecksbeziehung miteinander zu schaffen haben, loteten etliche Veranstaltungen aus.

Als der Eiserne Vorhang fiel und in Europa jene "Years of Change" begannen, die nun einer ganzen Buchmesse-Reihe den Namen gaben, waren Durs Grünbein, Marcel Beyer und Kers­tin Preiwuß 27, 24 und neun Jahre alt. Damals schien der Weg zu Freiheit und Demokratie vorgezeichnet. Heute bahnen sich Angst, Wut und Hass durch die Sprache ihren Weg in die Realität hinein. Im überfüllten Café Europa versuchten die drei, den "Semantiken unseres Zeitgeists" und den Gründen für Sprachlosigkeit sowie verbale Aufrüs­tung näherzukommen – verbunden mit der ganz praktischen Frage, wie der Verklärung und Verdrehung der Worte entgegengewirkt werden könnte.

War es nicht Brecht, der 1935 in seinem Exil-Aufsatz "Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit" vorschlug, statt vom "Volk" lieber von der "Bevölkerung" zu sprechen? Auch Durs Grünbein sieht die alten, hoch kontaminierten Sprach-Gespenster fast körperlich im Raum stehen, begleitet von den neuen Komposita der Unmenschlichkeit wie "Anti-Abschiebe-Industrie" und "Asyl-Kompromiss", die die Grenzen des Sagbaren Stück für Stück ausweiten.

Grünbein sieht sich und seine Kollegen auf einer Art "Vogelbeobachtungsstation der Sprache", als Sprachhistoriker wider Willen, lange Detox-Wortlis­ten anlegend: "Das tun wir nicht ganz freiwillig, und wir haben dabei nicht die Coolness von Journalisten. Aber wären wir da nicht sensibel, könnten alle unsere Texte misslingen." Kerstin Preiwuß erinnerte daran, dass Schriftstellerinnen und Schriftsteller die Möglichkeit haben, in ihren Texten das Gefühl miteinzubeziehen: "Wir können Konflikte mus­terhaft am Leben halten – und darauf beharren, dass viele Welten möglich sind."

Der Programmschwerpunkt "The Years of Change 1989 – 1991. Mittel-, Ost- und Südosteuropa 30 Jahre danach", den die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) in Ko­operation mit der Leipziger Buchmesse veranstaltetet hat, wird in den kommenden beiden Jahren fortgesetzt.

"Literatur bereichert die politische Bildung mit ungewöhnlichen Perspektiven, Brüchen und Bildwelten, die aufhorchen lassen, Leerstellen füllen und neue Fragen aufwerfen", so bpb-Präsident Thomas Krüger. Der Frage, wie man mit extremen Positionen im demokratischen Diskurs umgehen sollte, ging ein Podium des parallel zur Buchmesse tagenden 7. Bibliothekskongresses nach. "Wir finden Meinungsmacher toller als Diskursmacher", kritisierte etwa die Autorin Nina George. Bekommt man diese Entwicklung gedreht?

Der Börsenverein möchte in einer konzertierten Aktion Buchhandlungen als vorbildliche Orte der Debattenkultur sichtbar machen. "Der stationäre Buchhandel", so Hauptgeschäftsführer Alexander Skipis, "verfügt über eine Infrastruktur, die in die Kapillaren der Gesellschaft geht." Diskurs also beim Sortimenter ums Eck statt der täglich in den TV-Talkshows vorgeführten Diskurs-Simulation. Für Skipis ist es angesichts der Erosion unserer Demokratie fünf vor zwölf: "Wir müssen es schaffen, die Zivilgesellschaft zu mobilisieren. Es brennt!"

Als Jörg-Uwe Albig seinen neuen Roman "Zornfried" vorstellt, wird das taz-Studio nicht von stämmigen Jungmännern belagert, sondern von neugierigen Bildungsbürgern; die einzige Störung geht von einem Saxophon aus, das am Stand gegenüber trötet. 
Im Buch nimmt sich Albig der Faszination der Medien für obskure rechte Schwadroneure an. Nur liegt sein Herz der Finsternis, die Burg Zornfried, nicht in Sachsen-Anhalt, sondern in Niederfranken, im Spessart, dem deutschesten aller Wälder. Einem dort residierenden völkischen Seher-Dichter mit dem klangvollen Namen Storm Linné hat Albig ein Werk auf den Leib geschrieben: Gedichte, die mit Titeln wie "Nornenborn" oder "Lichtmahd" wirken wie Stefan George auf Speed. "Als Schriftsteller", erklärt Albig, "muss man sich auch in Fabelwesen rein­denken können." Aktuell gebe es zwar "rechte Rapper oder Liedermacher", aber kaum Lyriker, die ihm als Vorbild dienen konnten. 
Hat Albig, der lange selbst als Journalist gearbeitet hat, eine Erklärung dafür, warum seriöse Medien sogenannte Rechtsintellektuelle mit Talkshow-Sendezeit und einfühlsamen Reportagen hofieren? Der Autor kann nur spekulieren: "Es hat mit einer Art Angst-Lust zu tun – man nähert sich dem Monster und es beißt nicht! Dazu kommen journalistische Sensationsfreude, Konkurrenz-Reflexe und häufig wohl auch ein ehrlich gemeinter Aufklärungswunsch." Am Ende des Romans jedenfalls, und das macht Hoffnung, wird der völkische Dichter ein Fall fürs "Vermischte" sein, nicht mehr fürs Feuilleton. Zeit, sich mal wieder mit den wirklich wichtigen Sachen zu beschäftigen. 

Soll man Bücher mit rechten Positionen moderiert im Laden anbieten – oder erst gar nicht sichtbar machen? Ist die Weigerung, solche Titel im Laden zu haben, eine Art von Zensur? Im letzten Jahr, als Margarete Stokowski wegen neu­rechter Bücher im Laden eine Lesung bei Lehmkuhl in München absagte, kochten die Gemüter hoch. Ein Panel nahm das Dauerbrennerthema noch einmal auf, die Initiative #verlagegegenrechts hatte eingeladen. 

Steffen Ille von Lehmanns in Leipzig, einer 2.000-Quadratmeter-Fläche in 1-a-Citylage, hat beispielsweise Thilo Sarrazin im Regal, Sieferles "Finis Germania" nicht. "Dezidierte Naziliteratur gibt es bei uns nicht. Allerdings müssen am Ende des Tages die Zahlen stimmen – man macht sich etwas vor, wenn man diesen Aspekt außer Acht lässt." Im Übrigen warnt Ille davor, die Gatekeeper-Funktion des Buchhandels zu überschätzen: "Großflächen bilden eher einen Diskurs ab, als dass sie ihn steuern."

Annekatrin Grimm von der Buchhandlung Montag im Prenzlauer Berg hält dagegen: "Wenn ich Bücher neurechter Autoren in den Laden stelle, bewerbe ich sie, gebe ihnen Raum, unterstütze letztlich den Verlag. Es kann doch nicht nur um Geld gehen. Das ist eine Frage der Haltung!" Vermittelbar sind die Positionen wohl nicht – kultiviert streiten kann man über sie allemal. 

Raja, Thorben und Moritz von der Jugendliteratur-Jury der Leipziger Stadt­bibliothek sind sehr wortgewandte und höfliche Teenager. Doch dass sie Tomi Adeyemis "Children of Blood and Bone" (S. Fischer), eine Fantasygeschichte mit ausschließlich schwarzen Protagonisten, aus vielerlei Gründen nicht so cool finden, wird rasch deutlich. Dabei räumt das Buch, das 52 Wochen auf der "New York Times"-Bestsellerliste stand, endlich mal ordentlich divers mit dem eurozentristischen Blick auf. Der Auftritt der jungen Experten war Teil eines Symposiums des Arbeitskreises für Kinder- und Jugend­literatur, das diesmal unter dem Motto "Politisch positioniert! Engagement und Zeitbezug in aktueller Kinder- und Jugendliteratur" stand.

Spannend eine abschließende Diskussionsrunde, die nachfragte, inwieweit Engagement und kritischer Zeitbezug auf dem Kinder- und Jugendbuchmarkt überhaupt durchdringen. "Wenn ich Sachen von Manja Präkels oder Birgit Weyhe lese", so 3Sat-Redakteur Michael Schmitt, "häuft sich ein immenser Reichtum an Details an – da brauche ich keine These mehr. Bücher sollten nicht Trends nachlaufen, sondern selbst Themen setzen!"

Wie diese Themen wirken, diskutierte eine Runde zum Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugend­literatur, zu der die Börsenvereins-­Regionalgeschäftsstelle Nordrhein-West­falen eingeladen hatte. Der Preis zeichnet jährlich ein Buch aus, bei dem Toleranz und Zivilcourage in besonderer Weise vermittelt werden.

"So eine Geschichte weckt den Gerechtigkeitssinn", erläutert Franziska Schiebe, Marketingleiterin bei Beltz. Über die Arbeit mit Jugendgruppen kann diese eine enorm nachhaltige Wirkung haben, besonders über die Zusammenarbeit mit Schulen lasse sich Breitenwirkung erzielen, so Klaus Kaufmann von der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-West­falen, die Partner des Preises ist. "Gerade wenn der Autor mit jugendlichen Protagonisten arbeitet, freuen sich Jugendliche enorm: Da denkt jemand wie ich!", hat Katja Eder beobachtet, Jurorin, Literatur- und Medienwissenschaftlerin. "Bücher haben so eine identitätsstiftende Wirkung." Leipzig machte diese Rolle einmal mehr sichtbar – nicht nur für jeden Einzelnen, sondern für die gesamte Gesellschaft.

Was passiert, wenn die Demonstrationen zu Ende gehen, die Manifeste und Proteste verklungen sind? Unter dem Titel „Make some Noise! Be quiet!“ luden die Literaturzeitschrift EDIT und die Galerie für Zeitgenössische Kunst parallel zur Buchmesse-Eröffnung in die Galerie ein, um gemeinsam mit den Besuchern das poetische und politische Potenzial von Lärm und Stille auszuloten.

„Politisch Schreiben meint, Fragen nach Zusammenhängen und Abhängigkeiten zu stellen“, heißt es in den Grund-Sätzen der einmal im Jahr erscheinenden „PS: Anmerkungen zum Literaturbetrieb/Politisch Schreiben“, und: „Der Literaturbetrieb ist kein neutrales System.“ Die 2015 von einer Gruppe Studierender des Leipziger Literaturinstituts gegründete, (www.politischschreiben.net) liegt nun bereits in der vierten buchdicken Ausgabe vor. Sie widmet sich dem Thema „Alter“, zuvor ging es um „Konkurrenz und Kanon“ oder „Genie wieder Kollektiv“. Olivia Golde, eine der Herausgeberinnen: „Wir versuchen, mit jeder Ausgabe neu einen Begriff des Politischen zu entwickeln. Wir wollen scheinbare Selbstverständnisse nicht als solche akzeptieren und Diskussionen aufmachen, die sonst untergehen würden.“

Abends in der Stadt: Auf der Bühne des Ariowitsch-Hauses bläst Walter Famler „Bandiera rossa“ in die Mundharmonika; gemeinsam mit Rudi Gradnitzer vom Wiener Verlag bahoe books stellt er in der Reihe „Jüdische Lebenswelten“ eine Graphic Novel vor, die das Leben von Primo Levi erzählt, jenes italienischen Juden, Widerstandskämpfers und Holocaust-Überlebenden, der am 31. Juli dieses Jahres 100 geworden wäre. Darf man den Holocaust im Comic darstellen? Spätestens seit Art Spiegelmans „Maus“ eine rhetorische Frage, könnte man meinen - Doch ist die Frage nach dem besten Medium für eine Geschichte immer wieder neu zu stellen.