Christoph Türcke über die Benennung von Problemen

Traut euch, zu jammern!

11. April 2019
von Börsenblatt
Hat unsere Gesellschaft verlernt, richtig zu lesen? Fehlt es uns am nötigen Problembewusstsein? Christoph Türcke lenkt den Blick auf die kulturelle Großwetterlage und empfiehlt, Verdruss zu artikulieren. Eine Ermutigung.

"Eine von der British Library in Auftrag gegebene Studie hat 2008 herausgefunden, dass Studierende der angesehensten britischen Universitäten durchschnittlich maximal vier Minuten für die Konsultation eines E-Books und durchschnittlich maximal acht Minuten für die Konsultation eines E-Journals verwenden, ohne je wieder zu den Texten zurückzukehren. Navigation und Suchbewegung nehmen mehr Zeit in Anspruch als das Studium des Gefundenen." Wenn es einen globalen Trend gibt, dann diesen. Das Lesen gleicht sich dem Sichten an. Warum aber soll man Bücher kaufen, nur um sie zu sichten? Und so sinkt die Zahl der Buchverkäufe und Buchhandlungen ähnlich wie die Zahl der Akademiker steigt, die mit Internet, Smartphone und Tablet vollauf genug haben. Die globale Umverteilung der Aufmerksamkeit geht hin zu den Medien, die sich durch grelle Bildschnitte, Schlagzeilen und Töne vordrängen. Das Buch ist strukturell ein Auslaufmodell.

Und die 90.000 Neuerscheinungen pro Jahr allein in Deutschland? Sie stemmen sich gegen den Trend. Das darf doch nicht wahr sein, ist ihre Botschaft. Viele Verleger und Buchhändler sind nach wie vor Buchbesessene. Sie schauen unentwegt, wo sich neue Möglichkeiten auftun: bei Hörbüchern, Krimis, Regionalliteratur, unkonventionellen Themenschwerpunkten, Autorenlesungen auf dem Land, Koopera­tionen mit Zeitschriften und Bloggern.

Die Kleinen der Branche arbeiten sich halb tot. Fast ohne Mitarbeiter das tägliche Routinegeschäft bewältigen, ständig für Präsenz in allen sozialen Medien sorgen – und dabei vor zündenden neuen Ideen nur so sprühen: ein bisschen viel verlangt, nicht wahr? Aber auch die Großen wissen, dass die Buchbranche gegen den globalen Strom schwimmt, und sind nicht ganztägig in der Lage, ein Grinsegesicht dazu zu machen. Doch wehe, sie sagen laut, wo der Schuh drückt. Dann heißt es: Jammert nicht. Leuten, die auf Partys nur von ihren Gallensteinen, renitenten Kindern und kaputten Autos reden, geht ihr doch auch aus dem Weg.

Als ob dauernd Party wäre. Gewöhnlich ist Alltag im deregulierten mikroelektronischen Kapitalismus. Und daran, wohin er das Buch drängt, lässt sich verdammt gut ablesen, wie er tickt. Es ist wie mit der Erderwärmung. Kaum gibt es in Mitteleuropa einen kühleren Sommer, schon heißt es: Na, so schlimm kommt’s nicht. Kaum setzt ein Verlag einen Themenschwerpunkt, der unerwarteten Anklang findet, heißt es: Na bitte, geht doch.

"Jammert nicht" heißt nämlich im Klartext: "Redet bitte nicht von der Großwetterlage." Denn wohin die tendiert, ist ja offenkundig. Nicht zum völligen Verschwinden des Buchs. Es hat reichlich Freunde unter denen, die nur noch sichten, aber wegen äußerer oder innerer Unruhe nicht mehr dazu kommen, sich in etwas zu vertiefen. Sie würden ja gern, aber wann? Bücherlesen überlassen sie Leuten, die Zeit haben: Rentnern, Krankgeschriebenen, Arbeitslosen – als sozialen Luxus. Den kann allerdings nur genießen, wer zwischen Sichten und Lesen zu unterscheiden weiß.

Aber wo lernt man noch, dass Sichten ein flacher Abkömmling des Lesens ist, nicht Lesen ein schrulliger Abweg vom Sichten? Dafür wäre erst einmal von Kita bis Uniabschluss ein Problembewusstsein zu schaffen. Und wie soll man das, ohne von der globalen Großwetterlage des Buchs zu sprechen? Offene Ohren dafür findet man allerdings schwerlich beim Party-Small-Talk oder Smartphone-Wischen.

Christoph Türcke ist Autor und war von 1995 bis 2014 Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig.