Christine Guggemos über die Aktualität von Sinnsprüchen

Worte mit Wellengang

16. April 2019
von Börsenblatt
Aphorismen können Geschenkbücher veredeln – wenn Verlage sie wohldosiert einsetzen. Korsch-Lektorin Christine Guggemos über neue Sprücheklopfer und erste Ermüdungserscheinungen bei den Käufern.

Was macht die gewissenhafte Lektorin, nachdem sie den Gastbeitrag zur Bedeutung von Zitaten und Sinnsprüchen in der verlegerischen Programmarbeit übernommen hat? Richtig, sie sucht nach einem thematisch passenden Textschnipsel. Und wird im Überfluss fündig: Die Auswahl reicht von "Worte sind die mächtigste Droge, welche die Menschheit benutzt" (Rudyard Kipling) bis zu "2 Worte. 1 Finger" (Visual Statements). Stilistisch ist der Unterschied zwischen beiden Texten mindestens so groß wie der Abstand zwischen Alpha und Omega. Tatsächlich werden beide Texte ihre Anhänger finden.

Praktisch umreißt dieser kleine Exkurs das ganze Spannungsfeld, in dem sich das redaktionelle Schaffen der Produktverantwortlichen heute bewegt. Die Herausforderung besteht darin, für jeden Titel den richtigen Ton zu treffen. Denn nichts weniger als das erwarten potenzielle Käufer von uns. Bei bestimmten Geschenkanlässen, wie zum Beispiel Jubiläen, Geburtstagen oder Ähnlichem, wird die beschwerliche Suche nach den passenden Worten sogar buchstäblich an die Content-Spezialisten delegiert.

Der Dinosaurier im Sprüche-Universum ist vermutlich das literarische Zitat. Es kann in Kombination mit einem stimmungsvollen Foto noch immer große Strahlkraft entfalten. Entscheidend ist, dass die Worte, so alt sie auch sein mögen, an den Erfahrungshorizont beziehungsweise die Erlebniswelt der Zielgruppe anknüpfen.

Dann kann man, über Jahrhunderte hinweg, verblüffende Parallelen herstellen, Assoziationen wecken, zur geistigen Auseinandersetzung anregen. Eine Gratwanderung ist es, das intellektuelle Niveau auszubalancieren: Weder zu simpel, noch zu anspruchsvoll sollte die Textauswahl sein, denn nicht nur der übermäßige Genuss von gutem Wein, auch der von weisen Worten macht bekanntlich einen schweren Kopf.

Der Aphorismus, kostbare Perle der Prosa, erlebte seine vorerst letzte Blütezeit im frühen 20. Jahrhundert. Auch aus dieser Quelle lässt sich reichlich schöpfen. Doch werden die brillantesten Vertreter*innen der prägnant-geistreichen Verknappung mittlerweile derart effizient "beackert", dass selbst in der geneigten Zielgruppe erste Ermüdungserscheinungen erkennbar sind. Ergänzend bringt der Zeitgeist von heute ein gewisses Misstrauen in Bezug auf die Allgemeingültigkeit fein ziselierter Lehrsätze mit sich. Nachfrage wird in diesem Bereich vorrangig über angesagte Themen generiert.

Was keinesfalls heißt, dass Lebensweisheiten heute nicht mehr gefragt wären. Im Gegenteil: Man sieht im öffentlichen Raum mehr denn je davon – im virtuellen sowieso. Auch wenn sich die neuen Sprücheklopfer an den philosophischen Extrakten großer Geister bedienen, ist das Ergebnis heute in jeder Hinsicht meist plakativer, pathetischer, emotionaler: Der neue Aphorismus ist das Statement. Seine Entstehung und Rezeption ist eng verbunden mit dem Wunsch nach spontaner Identifikation und (Selbst-)Inszenierung, die zwangsläufig Rückmeldung von außen erwartet. Interaktion und Vernetzung ist ein wesentliches Handlungs­motiv der nach 1980 geborenen Bevölkerungsgruppen. Das Wissen um diesen Fakt muss in jede Produktentscheidung einfließen. Was das für die Verlage bedeutet? Das ist eine andere Geschichte.