Joachim Seng über die die Gedanken eines Kalenderherausgebers

Warum wieder Goethe?

14. Mai 2019
von Börsenblatt
Kalender mit dem Weimarer Dichterfürsten gibt es viele, Reclam legt jetzt noch einen drauf. Von den Herausforderungen an den Herausgeber berichtet Joachim Seng vom Frankfurter Goethe-Haus.

Seinem Sekretär John diktierte Goethe in Weimar: "Es schnurrt mein Tagebuch / Am Bratenwender / Nichts schreibt sich leichter voll / Als ein Kalender." Jene Verse kamen mir in den Sinn, als der Reclam Verlag im vergangenen Jahr bei mir anfragte, ob ich ab 2020 einen neuen Goethe-Kalender als Hardcover herausgeben möchte. Und ich dachte auch: Der alte Goethe hat leicht reden, der schreibt in seinen Kalender für das Jahr 1822 die "Marienbader Elegie", und die Nachwelt ist begeistert. Aber ich? Sicher, Goethes Werke bieten einen reichen Fundus an geistreichen Sprüchen und Aperçus, aber das hatten auch schon andere bemerkt.

Die Reihe der Goethe-Kalendermänner und -frauen ist lang – der umtriebige Literat Otto Julius Bierbaum gab 1906 den ersten "Goethekalender" heraus, als eine hübsch bebilderte Blütenlese aus Goethes Leben und Werk. Unter wechselnden Herausgebern erschien er bis 1928 in Leipzig, ehe Ernst Beutler, der Direktor des Frankfurter Goethe-Museums, den "Goethe-Kalender" erstmals von Frankfurt am Main aus herausgab. Er verpasste ihm mit dem Taschenbuchformat ein neues Aus­sehen und stellte den Goethe-Sprüchen Essays zeitgenössischer Autoren wie Max Kommerell und Thomas Mann zur Seite. Ab 1949 erschien der Kalender dann im Kleinformat in Zürich bei Artemis unter dem Titel "Mit Goethe durch das Jahr". Vor allem Peter Boerner und Effi Biedryzinski haben für viele Jahrzehnte dem Kalender mit täglichen Goetheworten und einem durchgängigen Thema ihren Stempel aufgedrückt.

Mittlerweile bieten gleich mehrere deutsche Verlage Kalender mit Goethe-Sprüchen für jeden Tag in ihrem Sortiment an. Warum also einen neuen? Bei all meinen Überlegungen: Zuerst einmal, weil es mich freut, dass gedruckte Taschenkalender auch in Zeiten von Smartphones mit Kalender-App nicht aus der Mode kommen. Offenbar sind sie zeitlos und widerständig. Der nächste Grund, warum ich Ja gesagt habe: Reclam verlangte von mir keine übliche Blütenlese von Zwei- und Vierzeilern. Ich wähle mir ein Thema und mache zum Kalendarium eine kleine Anthologie mit kompletten Gedichten und Prosastücken, mit längeren Briefauszügen, dramatischen Szenen und vielen Abbildungen. Aber dann: Welches Thema …?

Erst dachte ich: Herz, mein Herz, was soll das geben? Und dann war klar: der junge Goethe! Warum? Zuerst einmal, weil ich im Frankfurter Goethe-Haus arbeite. Dem jungen Dichter und seinem Werk begegne ich also täglich. Was lag da näher, als den ersten Reclam-Goethe-Kalender mit Texten aus dem Frühwerk aus der Taufe zu heben? Zumal der junge Dichter eine schillernde Erscheinung ist, die uns mit seinem r­ebellischen Aufbegehren gegen alte Ordnungen in Literatur, Kunst und Gesellschaft immer gegenwärtig bleibt und exemplarisch für das Gefühl jener Lebenszeit, die man Jugend nennt. Goethes Sprache ist leidenschaftlich, provozierend und direkt. Gedichte wie "Prometheus" und "Maifest", der "Urfaust" oder die Rede "Zum Shakespears Tag" zeigen ­Goethe als genialischen jungen Menschen und Dichter. "Auf meine Herren, trompeten Sie mir alle edlen Seelen aus dem Elysium des sogenannten guten Geschmacks, wo sie schlaftrunken in langweiliger Dämmerung halb sind, halb nicht sind, Leidenschaften im Herzen und kein Mark in den Knochen haben …" Klingt Goethe nicht auch nach knapp 250 Jahren noch sehr impulsiv und modern?

Joachim Seng ist Leiter der Bibliothek und des Archivs des Frankfurter Goethe-Hauses und Herausgeber eines neuen  Goethe-Kalenders bei Reclam.

Mehr zum Thema Kalender finden Sie im Kalender-Spezial der Printausgabe 20/2019 des Börsenblatts.