Interview mit Börsenvereins-Schatzmeister Matthias Heinrich

Veränderte Rahmenbedingungen

13. Juni 2019
von Börsenblatt
Die Mitgliedsbeiträge des Börsenvereins sind 2018 deutlich unter fünf Millionen Euro gerutscht: Schatzmeister Matthias Heinrich sieht den Verband deshalb vor gewaltigen Aufgaben – und sinniert über eine neue Form der Budgetplanung.

In Ihrer Anfangszeit als Schatzmeister konnten Sie für das Vereinsjahr 2013 noch 5,2 Millionen Euro an Beitragseinnahmen vermelden, 2018 kommen gerade mal 4,94 Millionen Euro zusammen. Eine alarmierende Entwicklung?
Was mich mehr erschreckt, ist die Entwicklung der Mitgliederzahl. Ende 2013 hatten wir noch fast 5.400 Mitglieder, Ende 2018 waren es nur noch 4.513. Gleichzeitig ist es uns gelungen, immer einen ausgeglichenen Etat vorzulegen – durch neue Einnahmequellen und Sparmaßnahmen. Und das vor dem Hintergrund größer werdender Herausforderungen. Die Rahmenbedingungen in den letzten sechs Jahren haben sich zum Teil dramatisch verändert. Das fing unter anderem bei der Niedrigzinspolitik an, die fortschreitende Digitalisierung und der Erhalt der Preisbindung sowie die Herstellung der Beteiligung der Verlage an den Ausschüttungen der Verwertungsgesellschaften haben uns begleitet. Auf den Haushalt wirkte sich die Konzentration aus, ebenso das veränderte Werbeverhalten weg von Print­anzeigen – und zu Beginn dieses Jahres kam die KNV-Insolvenz hinzu. Die Zeiten ändern sich, ebenso der Zeitgeist. Der Verband steht auch in Zukunft vor gewaltigen Aufgaben, denn die nächste Generation hat ein völlig anderes Bild von Medien, Darreichungs- und Bezahlformen. Daran muss man die Arbeit neu ausrichten, gegebenenfalls auch bisherige Dogmen aufgeben.
       
In Ihre Amtszeit fielen auch die Durchsetzung und der Beschluss für weitere Beitragserhöhungen, im Jahr 2018 Thema auf den Buchtagen. Bleiben die Beiträge zukünftig stabil?
Ich fürchte nein, denn der Mitgliederrückgang ist nicht aufzuhalten und wir brauchen für den Handlungsspielraum des Börsenvereins immer ein gewisses Mindestmaß an Einnahmen. Das Hauptamt ist sehr erfindungsreich und experimentierfreudig bei der Erschließung neuer Erlösquellen, die Substanz muss aber aus den Einnahmen der Mitgliedschaft kommen, deren Interessen man vertritt. Die Unabhängigkeit ist eine Grundvoraussetzung der glaubwürdigen Lobbyarbeit. Ein wenigstens an die Preissteigerung gekoppelter Anstieg der Beiträge pro Jahr gehört für mich schon zeitnah beschlossen. In anderen Verbänden oder bei Vertragsverhältnissen ist das Usus, der Börsenverein hat sich noch nicht an das Thema heran­gewagt.      

Die Mitglieder verlangen eher einen Sparkurs. Wäre das nicht der geeignetere Ansatz?
Der Börsenverein vertritt die Interessen dreier Sparten, die zum Teil für sich solitäre Interessen definieren. Diese werden dann im Zuge des Branchenwohls und eines ausgeglichenen Budgets harmonisiert. Die Abstimmung ist hier oft ein schwieriger Prozess, manch ein Besitzstand wird angetastet. Immer wieder steht vieles auf dem Prüfstand, was schlussendlich dann aber doch als unabdingbar gilt. Nach dem Gießkannenprinzip zu sparen, ist nicht sinnvoll. Denkbar wäre es, sich einmal von einer fortschreibenden, an Werten der Vergangenheit orientierten Planung zu verabschieden und ein völlig neues »Zero-Base-Budgeting« zu betreiben. Aber daran darf man sich nicht überheben. Bestehende Planungsmechanismen fortzusetzen und zu verfeinern, bedeutet, die Funktion nicht zu gefährden und Bewährtes zu erhalten – während ein grundlegend neues Verfahren bei der Budgetplanung immer auch die Risiken des Unbekannten und somit nicht nur Chancen birgt. Trotzdem wäre es aus meiner Sicht eine Option für die Zukunft, das Budget des Verbands einmal völlig neu und frei im Denken aufzusetzen – gewissermaßen wie einen Neubau auf der grünen Wiese.   

Apropos Neubau auf der grünen Wiese, den gab es auch in Erfurt. Sie haben die KNV-Insolvenz als Einflussfaktor für den Haushalt schon angesprochen. Wie schätzen Sie die Auswirkungen auf die Branche ein?
Zunächst bleibt es Aufgabe des Insolvenzverwalters, für den Fortbestand des Geschäftsbetriebs der KNV-Unternehmen die beste Lösung zu finden. Da kann und will man von außen keinen Rat geben. Wir haben uns im April auch im Haushaltsausschuss mit der KNV-Insolvenz und zu erwartenden Dominoeffekten beschäftigt, um unterschiedliche Szenarien entwickeln zu können und gegebenenfalls einen Plan B oder C für den Verband zu haben. Unsicher ist, ob die Mitgliedsbeiträge 2019 der KNV-Gruppe komplett gezahlt werden können – und KNV ist kein kleiner Beitrags­zahler. Noch stehen wir also im Feuer des Insolvenzantrags und der solidarischen Unterstützung der Branche für einen wichtigen Großhändler als Bindeglied zwischen den Sparten, sei es als Barsortiment oder als Auslieferung. Ist das Feuer gelöscht, gilt es, die Schäden des Brandes aufzunehmen. Und da stehen wir immer noch am Anfang. Solidarität hin oder her, KNV ist zunächst (betreffend die Vorgänge vor dem 14. Februar) immer noch Schuldner vieler Lieferanten, die nach und nach merken, dass die Glut noch glimmt und in einzelnen Mitgliedsunternehmen Brandherde neu entstehen können. Bis die Folgen der Insolvenz ausgestanden sind, kann es lange dauern, auch verbunden mit weiteren Liquiditätslücken und Wertberichtigungsbedarf. Der Insolvenzantrag ist erst knapp vier Monate her.        

Bleiben noch die Wirtschaftsbetriebe. Sind diese für den Wettbewerb und die Zukunft richtig aufgestellt?
Ich denke schon. Operativ sind die Unternehmen solide aufgestellt und geführt. Der Aufsichtsrat der Börsen­vereinsholding BBG, besetzt mit Branchenvertreter*innen und ganz bewusst auch mit branchenfremden Unternehmer*innen, versucht, den strategischen Korridor mitzugestalten und achtet darauf, dass die Richtung gehalten wird – auch beim Umsatz, denn die Wirtschaftsbetriebe finanzieren über die Ausschüttung der BBG den Börsenverein mit. Siegmar Mosdorf, der Aufsichtsratsvorsitzende der BBG, berichtet am 19. Juni auf der Hauptversammlung aus der Arbeit der BBG und der Tochterunternehmen. Man muss nicht mit jedem Projekt auf den ersten Blick einverstanden sein, aber Skalierung von Kompetenzen und Internationalisierung sind nicht per se zu verwerfen, sondern stellen eine Chance dar. Bei Produkten wie VLB-TIX liegt es auch an der Branche selbst, den Input für eine erfolgreiche Zukunft zu geben. Aber vor lauter Anspruchshaltungen und Bedürfnissen / Wünschen der einzelnen Sparten an ein Produkt darf sich ein Projekt auch nicht verzetteln. Hier ist es dann auch Aufgabe des Aufsichtsrats, sich zu positionieren und Pflöcke einzuschlagen. Wo sind finanzielle Limits, wo könnte der Apparat gefährdet sein? Ich glaube, dass im Aufsichtsrat sehr überlegt und ausgewogen beraten wird. Die Rahmen­bedingungen und Probleme sind aber für die Wirtschaftsbetriebe nicht anders als für jedes Mitgliedsunternehmen. MVB und Frankfurter Buchmesse müssen ihren Weg im selben Umfeld suchen und finden.  

Bei der Hauptversammlung am 19. Juni betreten Sie zum letzten Mal als Schatzmeister die Bühne. Fühlen Sie Erleichterung oder eher Wehmut?  
Eher Wehmut! Ich habe das Amt, die Aufgabe und die Zeit genossen. Die Arbeit hat mir viel gegeben. Mein Team bei Brockhaus / Commission verdient einen Dank, denn es hat mir die Abwesenheiten verziehen und auch durch Einsatz manches kompensiert. Meine Familie hat zukünftig ein Mitglied zurück, das seine Rolle daheim oft verwaisen ließ. Ich hoffe nicht, dass es mir geht wie in Loriots Film "Papa ante portas". Obwohl ich nie im Mittelpunkt stand, habe ich im Börsenverein Anerkennung erfahren, die mir persönlich vielleicht fehlen wird. Niemand ist frei von Eitelkeit – und ich fürchte durchaus, dass ich die Vorstandsarbeit und auch die stetige Pflege der dort entstandenen Freundschaften vermissen werde. Also bleibt ganz klar Wehmut.

Was möchten Sie Ihrem Nachfolger mit auf den Weg geben? Gibt es etwas, das Sie nach all den Erfahrungen heute anders machen würden?
Zunächst einmal glaube ich, dass man die Unsicherheit vor dem Amt schnell ablegen sollte, dabei hilft einem auch das Backup aus Haupt- und Ehrenamt. Man übernimmt zwar eine neue Aufgabe, aber das weiß auch jeder. Die Unterstützung, die man aus den Abteilungen im Börsenverein erfährt, ist Gold wert. Ich bin auch gern bereit, mein erworbenes Wissen mit dem Nachfolger zu teilen. Berührungsängste muss man also nicht haben, nichts wie ran an den Job. Nicht zuletzt ist es ungeheuer wichtig, den Kontakt zu den Wirtschaftsprüfern zu pflegen. Im Zusammenspiel mit Dritten, die dennoch in der Thematik drin sind, lässt sich manche Nuss knacken. In die Aufgabe wächst man von alleine hinein, wenn man nicht sogar an ihr wächst. Ich kann nur raten, einen eigenen Stil zu entwickeln und mit Rückgrat seinen eingeschlagenen Weg zu verfolgen. Sicher habe ich rück­blickend auch Fehler gemacht – spontan fällt mir aber keiner ein, der böse Folgen gehabt hätte. Meinem Nachfolger möchte ich eigentlich nur mit auf den Weg geben, er selbst zu bleiben. Und man muss sich von vornherein abschminken, es handle sich um eine Repräsentationsaufgabe. Schatzmeister zu sein bedeutet Kärrnerarbeit im Hintergrund, ohne Lorbeeren und öffentliche Breitenwirksamkeit. Das habe ich auch jedem gesagt, der mich vor einer Kandidatur gefragt hat. Die wichtigste Erfahrung war, dass man die Mitglieder mitnehmen kann, auch bei harten Entscheidungen in schwierigen Phasen, wenn man glaubwürdig argumentiert, die Bedürfnisse der Mehrheit hört und in die Arbeit einbindet. Ignoranz und Hochmut stehen am Beginn des Verfalls jeder Verbandsarbeit, kein Vorstand hat Legitimation ohne mehrheitlich zufriedene Mitglieder, Punktum.

Haben Sie Fragen zum Finanzbericht?

Alle Unterlagen für die Hauptversammlung am 19. Juni in Berlin sind online abrufbar unter www.boersenverein.de/hauptversammlung – darunter Finanzbericht und Jahresbericht. Anmeldung unter www.boersenverein.de/buchtage.

Fragen zum Finanzbericht können diesmal im Vorfeld auch schriftlich an Schatzmeister Matthias Heinrich geschickt werden, E-Mail: finanzen@boev.de.

Im Rahmen der Vorstandswahl wählen die Mitglieder in Berlin einen neuen Schatzmeister als Nachfolger für Matthias Heinrich (mehr im Onlinedossier Vorstandswahl unter boersenblatt.net/1653465/). Es kandidieren, wie berichtet:

  • Klaus Gravemann, Bücherhaus am Münster, Neuss
  • Peter Seitz, Leiter Finanzen der Thieme Gruppe, Stuttgart