Die Sonntagsfrage

"Wie bereiten Sie Gedichten in Gebärdensprache eine Bühne?"

14. Juni 2019
von Börsenblatt
Am 22. Juni startet in Berlin die Veranstaltungsreihe "Text kommt in Bewegung", bei der gebärdensprachliche und lautsprachige Poesie aufeinander treffen. Die Leiterinnen der Literaturinitiative "handverlesen", Franziska Winkler und Katharina Mevissen, erklären das Konzept.

Im Sommer 2016 sind wir auf eine französischsprachige Anthologie gestoßen, die herkömmliche Gedichte in französische Gebärdensprache übersetzt hat. Wir wurden neugierig und recherchierten, was für Bücher es in dieser Richtung in Deutschland gibt. Wir konnten keine deutschsprachige Publikation dieser Art finden. Wir waren empört und beschlossen kurzerhand, das selbst in die Hand zu nehmen. Schnell stellten wir fest, dass es erstmal eine intensive Vermittlungsarbeit zwischen dem hörenden und tauben Kulturbetrieb braucht. Daher gründeten wir die Initiative "handverlesen", da das Problem größer und politischer ist, als wir dachten: es fehlt nicht nur ein Buch, sondern es braucht ein Umdenken darüber, was Literatur ist und sein kann, und es braucht die Vernetzung und Zusammenarbeit tauber und hörender Lyriker*innen und Literaturschaffender. In dem Team der Lettrétage aus Berlin Kreuzberg haben wir gute Mitstreiter*innen gefunden, die uns von Anfang an in unserem Projekt unterstützt haben.

Visuell performte Lyrik

Gebärdensprachpoesie als solche gibt es zwar schon lange, aber es ist nun etwas ganz Neues, dass sie im hörenden Literaturbetrieb sichtbar wird. Dass Taube Künstler*innen im Rahmen einer Veranstaltungsreihe, an klassischen Orten der hörenden Literaturszene auftreten, und dass sie auf Augenhöhe mit hörenden Lyriker*innen zusammenarbeiten, ist ebenso neu.

Das Thema unserer Veranstaltungsreihe "Text kommt in Bewegung" passiert tatsächlich während der Performances, weil Literatur, die in Gebärdensprache übersetzt wird, kein schriftlicher Text mehr ist, sondern ein visuell und räumlich performter Text und damit kommt er in Bewegung. Er passt auf keine Seite mehr und stellt somit die traditionelle Definition von Literatur als Text in Frage und findet eine lyrische Sprache jenseits von Schrift und Wort. Literatur in Gebärdensprache lässt sich nicht abdrucken: Sie artikuliert sich als körperlich und räumlich gebundene Performance. Sie bringt also nicht nur Text, sondern auch das Denken über Text in Bewegung. Diesen Aspekt wollen wir mit den Veranstaltungen in den Vordergrund stellen.

Workshops zur Vorbereitung

Die verschiedenen Performances sind Resultat zwei intensiver Werkstatt-Wochenenden, die wir gemeinsam mit fünf tauben Künstler*innen und sechs hörenden Lyriker*innen im Frühjahr 2019 veranstaltet haben, bekannten Gesichter und Stimmen der Tauben und hörenden Szene: Kassandra Wedel und Lea Schneider, Rafael-Evitan Grombelka und Kinga Tóth und Tim Holland, Julia Hroch und Anna Hetzer, Laura-Levita Valyte und Daniela Seel, sowie Dawei Ni und Ulf Stolterfoht. Während der Werkstätten haben sich alle über ihre literarische Praxis ausgetauscht und mit Gebärdensprachpoesie und lautsprachlicher Lyrik experimentiert.

Bei den Veranstaltungen im Juni, September und November kann man nun endlich live erleben, wie sich ein Gedicht bewegt. An drei Abenden kommen die tauben und hörenden Künstler*innen-Teams mit ihren verschiedenen Arbeiten auf die Bühne. Die tauben Künstler*innen performen ihre Poesien und gebärdensprachlichen Übersetzungen, die hörenden Lyriker*innen tragen ihre Gedichte und die Übersetzungen der Gebärdensprachpoesie vor. Eine visuelle, performative Lesung in zwei Sprachen, für Auge und Ohr.

Im kommenden Jahr arbeiten wir vor allem an der Herausgabe der ersten zweisprachigen Publikation, einem Buch (für den Text) mit Film (für die Gebärdensprache), in denen die in der Workshop- und Veranstaltungsreihe entstandenen Poesien und die Übersetzungen versammelt sind.

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Zur Veranstaltungsreihe

Bei der Auftaktveranstaltung am 22. Juni präsentieren die Lyrikerinnen Julia Hroch, Anna Hetzer und Laura-Levita Valyte neue Poesien in Laut- und Gebärdensprache. Am 28. September widmen sich Rafael-Evitan Grombelka, Tim Holland, Lea Schneider, Kinga Tóth und Kassandra Wedel der Frage nach Gebärdensprachpoesien und performen ihre neuen Gedichte. Dawei Ni, Daniela Seel und Ulf Stolterfoht geben am 16. November Einblicke in ihre gemeinsame Arbeit.

Alle Veranstaltungen finden in der Lettrétage (Mehringdamm 61, 10961 Berlin) statt und beginnen jeweils um 20 Uhr.

Die Literaturinitiative "handverlesen" wird von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa der Stadt Berlin gefördert und kooperiert mit dem Lettrétage e. V.

Video-Aufzeichnungen von gebärdensprachlicher Lyrik finden sich auf der handverlesen-Website.