Umfrage unter Literaturhausleitern

Welche Autoren beeindrucken live?

13. Juni 2019
von Börsenblatt
Welche Autorin, welcher Autor hat Sie zuletzt mit einer eindringlichen Lesung, einem ungewöhnlichen Auftritt besonders beeindruckt? Das wollten wir von Literaturhausleitern wissen. Fünf Antworten.

Bettina Fischer, Leiterin des Literaturhauses in Köln

"Die Frage nach dem besonders bemerkenswerten Auftritt trifft ins Herz der Vermittlungsarbeit, die wir in Literaturhäusern leisten. In gut 20 Jahren habe ich viele unvergessliche Veranstaltungen erlebt – aber zuletzt haben mich besonders Auftritte von Angela Steidele im Kölner Literaturhaus begeistert, denn sie nimmt die Literaturveranstaltung als eigene künstlerische Ausdrucksform sehr ernst! Angela Steidele wählt Textpassagen klug und trägt sie sehr gut vor – zuletzt aus 'Anne Lister. Eine erotische Biographie' oder 'Zeitreisen. Vier Frauen, zwei Jahrhunderte, ein Weg' (beide Matthes & Seitz). Mit ihren Büchern hat sie mir zur differenzierten Wahrnehmung der Genderthematik die Augen geöffnet. Wie die Autorin über ihr Werk und ihr Schreiben spricht, ist ausgesprochen klar und erhellend. Sie überlegt sehr genau, was sie in Veranstaltungen vermitteln möchte, bereitet sich hervorragend vor und hat zugleich Eloquenz, Präsenz und den Schalk zur spontanen Gewitztheit im Gespräch. Dass einschlägige Chorerfahrung ihr Stimmkraft gibt, mag zum rundum gelungenen Auftritt beitragen."

Hauke Hückstädt, Leiter des Literaturhauses in Frankfurt am Main

"Als jemand, der nach wie vor an die Idee des Programms glaubt, also an die einenden wie differenzierenden Kräfte eines Programms für mehr oder weniger ungeplante Ensembles aus Autorinnen, Übersetzern, Illustratoren, Schauspielerinnen, Journalisten, Politikerinnen, Philosophen und Wissenschaftlerinnen, kann ich schwer jemanden herausnehmen aus dieser Brigade. Der Auftritt von Jens Mühling (zuletzt: 'Schwarze Erde', Rowohlt) und Ulrike Almut Sandig (zuletzt: 'ich bin ein Feld voller Raps verstecke die Rehe und leuchte wie dreizehn Ölgemälde übereinandergelegt', Schöffling & Co), die jeweils einen Text in einfacher Sprache vortrugen und zur Diskussion stellten, ist mir jedoch vibrant in Erinnerung. Die Ergänzung der beiden. Aber auch, weil Sandig für ihren Text in einfacher Sprache ein sehr niederschmetterndes Thema gewählt hatte: sexuelle Gewalt gegen ein Kind. Ihr Vortrag und die Art ihrer Bühnenanwesenheit haben es dann aber möglich gemacht, dass die Absichten nicht absichtsvoll wirkten und dass die Bedrückung, die nicht ausblieb, Lastwechsel erfuhr."

"Literatur in Einfacher Sprache" ist ein Projekt des Literaturhauses Frankfurt, gefördert vom Hessischen Ministerium für Soziales und Integra­tion, in Kooperation mit der Stabsstelle Inklusion Frankfurt, hr2-kultur und dem Partner "Netzwerk Inklusion Frankfurt".

Janika Gelinek vom Leitungsduo des Literaturhauses Berlin

"Einen großartigen Abend in jeder Hinsicht hatten wir am 28. März mit dem Ehepaar Steinmüller, das im Gespräch mit Ann Cotten seine Erzählungen 'Sphärenklänge. Geschichten über die Relativistische Flotte' (Golkonda) im Kaminzimmer des Literaturhauses vorstellte. Wie die Diplom-Mathematikerin Angela Steinmüller und der Diplom-Physiker Karlheinz Steinmüller dort im Kaminzimmer saßen, etwas fremd, zugleich voller Neugier und Begeisterung, und gemeinsam mit Ann Cotten die Besonderheiten der Science-Fiction und ihre sich mit den politischen Verhältnissen ändernden Aufgaben und Möglichkeiten erörterten, war einfach wunderbar: Beim Lesen wechselten sie sich ab, sie eher leise, er mit kräftigem Bass deklamierend, nicht alles war perfekt, nicht alles bühnenreif – aber dafür voller Intimität und Spannung."

Sonja Longolius vom Leitungsduo des Literaturhauses Berlin

"Mir ist besonders die Lesung mit Tomer Gardi am 21. Februar in Erinnerung geblieben. Der gebürtige Israeli, der mit seinem Debütroman 'Broken German' buchstäblich die deutsche Sprache stürmte, stellte im Gespräch mit dem Lektor und Übersetzer Gadi Goldberg seinen neuen Roman 'Sonst kriegen Sie Ihr Geld zurück' (Droschl) auf Deutsch und Hebräisch vor, und das in einer derart energetisierenden Art, dass ich schmunzelnd und beschwingt durch den Abend getragen wurde. Wild gestikulierend, voller Verve und bezaubernd einnehmend führte er uns durch die atemberaubende Geschichte seiner Scheherazade, der Schriftstellerin Tolly Grotesky, die ebenso existenziell im Arbeitsamt den Bürokraten hinter dem Schreibtisch für sich zu gewinnen versucht."

Rainer Moritz, Leiter des Literaturhauses Hamburg

"Neulich bin ich fremdgegangen. Habe einen freien Abend genutzt, um eine Lesung zu besuchen, die nicht im Literaturhaus Hamburg stattfand. Ich wollte mir Daniela Krien anhören, die in der Buchhandlung Heymann, Hamburg-Eimsbüttel, aus 'Die Liebe im Ernstfall' (Diogenes) las. Und wie sie aus diesem ohnehin famosen, lebensklugen Roman vortrug, wie sie dessen fünf weiblichen Hauptfiguren eine eigene Stimme verlieh und den existenziellen Ernst des Textes mit leichter Hand in der Schwebe hielt – das hat mich beeindruckt. Ganz mühelos hätte ich dieser Autorin noch eine Stunde zuhören können. Was das Besondere von Lesungen ausmacht und wie Autoren, die ihr Metier beherrschen und keinen Budenzauber nötig haben, ihrem Text im Vortrag eine neue Tiefenschicht entlocken, das konnte man an diesem Abend erfahren. Und ich bin mir sicher, dass Daniela Krien bald einmal im Literaturhaus Hamburg lesen wird."