Politisch-literarischer Abend im Berliner Büro des Börsenvereins

Lust auf Norwegen

11. September 2019
von Börsenblatt
Norwegen an der Spree – das Berliner Büro des Börsenvereins hat am Dienstag Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Kultur und Literatur zu Ehren des Gastlands der Frankfurter Buchmesse 2019 eingeladen. Im Mittelpunkt: die Autorin Ruth Lillegraven, ihr Kollege Lars Mytting und die neuen Bücher der beiden.

"Wer vorwärts will, muss seine Zeit, das Land, in dem er lebt, verstehen" – Börsenvereinsvorsteher Heinrich Riethmüller zitierte den großen norwegischen Dramatiker und Lyriker Henrik Johan Ibsen und fragte, was von allen Beschäftigungen sinnvoller dafür wäre, als die Auseinandersetzung mit Literatur. "Wir wollen diesen Abend nutzen, um ein Land kennenzulernen, vielleicht sogar zu verstehen", sagte er. Riethmüller hob in seiner Begrüßung besonders die Übersetzungsleistung hervor: Stellvertretend für alle Übersetzerinnen und Übersetzer bedankte er sich bei Hinrich Schmidt-Henkel, der beim Norwegen-Abend am Berliner Schiffbauerdamm in die Werke von Ruth Lillegraven und Lars Mytting einführte. "Ohne Ihre Arbeit wäre das Verständnis der Literatur anderer Länder gar nicht möglich", so Riethmüller.

Für norwegische Künstler sei Deutschland schon immer ein Ziel gewesen, sagte Petter Ølberg, Botschafter Norwegens in Deutschland. In diesem Jahr sei das Interesse an der Literatur seines Landes quasi explodiert: "450 Bücher sind zur Buchmesse ins Deutsche übersetzt worden. Für ein Land mit fünf Millionen Einwohnern ist das immens."

"Die gehen einfach nicht nach Hause"

In einer kleinen Talkrunde brachte der Moderator Thomas Böhm den Messedirektor Juergen Boos mit Halldór Guðmundsson, dem isländischen Schriftsteller, Verleger und NORLA-Projektleiter des Ehrengastauftritts, zusammen. Er höre von den Norwegern immer, dass das deutsche Publikum das Beste sei, so Böhm. "Was macht uns so gut?", fragte er Guðmundsson.  Der lobte das große Interesse deutscher Verlage – und Leser – an übersetzter Literatur. Was er aber am meisten bewundere, sei die Ausdauer des Publikums bei Lesungen: "Die Leser gehen einfach nicht nach Hause. Selbst wenn der Autor über seinen eigenen Text fast eingeschlafen ist, geht es weiter". Von Juergen Boos wollte Böhm wissen, was Deutschland von Norwegen in Sachen Literaturförderung lernen könne. Seine Antwort: "Professionalität, vor allem aber die Leidenschaft, mit der bei NORLA, Norwegian Literature Abroad gearbeitet wird".

Die ganze Welt im Blick

Wie gern die deutschen Leser Autoren zuhören, zeigte sich auch in Berlin. Ruth Lillegraven, geboren 1978 im nordnorwegischen Granvin, ist mit Gedichten bekannt geworden, veröffentlichte aber auch Kinderbücher, Theaterstücke und einen Krimi. Ihr 2016 in Norwegen erschienenes Buch "Sichel", ist eine Erzählung in Gedichten, wurde jetzt auf Deutsch in der Edition Rugerup publiziert (Übersetzung: Klaus Anders) und steht auf der Hotlist 2019 der Independent-Verlage. Lillegraven siedelt ihr Langgedicht im 19. Jahrhundert in einem Dorf in Norwegens Westland an und erzählt die Geschichte des jungen Bauern Endre, der den Hof übernehmen soll, schwer krank wird, und erst die Bücher und dann die Welt entdeckt. Lillegraven und die Synchronsprecherin Britta Steffenhagen lesen abwechselnd – Sprachmelodie, Rhythmik, Zartes und Raues, der Anfang einer Liebesgeschichte, deren Ende man nicht verpassen möchte. Autorin und Interpretin haben den Gästen des Berliner Büros etwas Besonderes geschenkt. (Dass der Mond bei dem Gedicht "Der Mond" durch die Fenster hinter der Bühne in voller Pracht zu sehen war – ein zauberhafter Zufall.)

Die norwegische Sprache umfasst neben den beiden Schriftsprachen Bokmal und Nynorsk eine Vielzahl von Dialekten. "Es gibt 40 Sprachen, die man nicht lernen kann, 38 davon sind Norwegisch", zitierte der Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel eine Weisheit, die man sich in Norwegen erzählt. Wie unterschiedlich sich das anhört, wurde bei der Lesung von Lars Mytting deutlich, der den Anfang seines neuen Romans "Die Glocke im See" im Dialekt seines Heimatortes vorlas, der auf Deutsch bei Suhrkamp / Insel erschienen ist und von Schmidt-Henkels übersetzt wurde. Myttings Roman spielt 1880 in einem abgelegenen Tal, es geht um norwegische Mythologie, Aberglaube und den Aufbruch in eine neue Zeit. Die Kurzfassung: Astrid, die zwischen der alten Welt steht, die der Pfarrer und der Dresdener Architekturstudent, der die alte Pfahlkirche abbauen und nach Dresden schaffen soll, verkörpern. Mytting hat mit seiner Kulturgeschichte des Holzes unter dem Titel "Der Mann und das Holz" 2014 in Deutschland einen Bestseller gelandet. Sein neuer Roman handelt von einem Leben, das – wie für so viele in so vielen Ländern und zu unterschiedlichsten Zeiten – vor allem Durchhalten bedeutet in einer harten Welt.

Aus der Verwurzelung heraus schaffe es die norwegische Literatur, die ganze Welt in den Blick zu nehmen, sagte Schmidt-Henkel, der neben Mytting die Werke vieler anderer norwegischen Autoren ins Deutsche übersetzt hat, darunter Tomas Espedal und Jon Fosse, die zusammen mit Lars Mytting, Ruth Lillegraven und über 70 weiteren Autorinnen und Autoren im Oktober in Frankfurt sein werden. Berlin freut sich darauf.


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