Deutscher Buchpreis: Gespräch mit Buchpreisträger Saša Stanišić

"68,75 Prozent Wirklichkeit"

19. Oktober 2019
von Börsenblatt
Wie autobiografisch ist Saša Stanišićs mit dem Deutschen Buchpreis  2019 ausgezeichnetes Buch "Herkunft" (Luchterhand) - und ist es überhaupt ein Roman? "Ich find's schön, dass die Jury das Buch als Roman gesehen hat - sonst könnte ich heute nicht hier sitzen", antwortet Stanišić auf die Frage, die ihm Börsenblatt-Redakteur Michael Roesler-Graichen gestellt hatte - und ein donnernder Applaus unterstrich, dass die Zuhörer im bis auf den letzten Platz besetzten Pavilion die Juryentscheidung ebenso sahen.

Stanišić wollte "einen relativ offenen Zugang zu dem, wie gelesen wird - wer's autobiografisch lesen möchte, soll es tun, wer's fiktiv sehen möchte, soll es als Roman lesen." Einschübe nicht-biografischer Art seien eher in homöopathischen Dosen vorhanden. "Also wie viel Prozent Wirklichkeit?", hakte Roesler-Graichen nach, worauf Stanišić mit einem Augenzwinkern "68,75 Prozent" meinte und dann präzisierte: "Je weiter wir von der Gegenwart weggehen, um so fiktiver wird es, weil die Informationen fehlen." Von seinem Großvater beispielsweise wisse er nur, dass er Flößer gewesen sei und nicht habe schwimmen können: "eine gute Ausgangsbedingung, um weiterzuschreiben".

"Zuerst dachten wir an einen Umfang von 80 Seiten", erzählte Stanišićs Verlegerin Regina Kammerer. Ausgangspunkt waren drei Vorlesungen des Schriftstellers über Poetologie in Zürich. "Und dann überarbeitet man, es kommen neue Gedanken ...", berichtete Stanišić, "... und als ich das nächste Stadium seines Manuskripts in Händen hatte, waren es 200 Seiten ...", ergänzte Kammerer.

Intensiv debattierte die Podiumsrunde über den Begriff "Herkunft". "Man kann ihn sehr wörtlich nehmen, oder auch nicht. Wenn jemand sagt, ich bin im Allgäu geboren, kenne alle Lieder von dort, denkt man, es sei eindeutig. Der Zweite sagt, ich bin Hesse, habe schlesische Vorfahren: da wird's schon schwieriger. Und wenn der Dritte von Bayern nach Berlin ziehen muss ... Der Begriff wird erweitert, er wächst bei mir mit, je mehr ich im Leben erfahre." Stanišić erwähnte den Busfahrer, der ihn und seine Familie über die Grenze nach Ungarn gebracht habe; nur ihm hab er es zu verdanken, dass er heute hier sitze: "Eine Reihe von Begenungen bringt uns immer weiter." Der Begriff Herkunft, fügte er an, dürfe jedoch nicht so verwendet werden, dass man andere damit isoliere.

Stanišić las temporeich und nuanciert die Spannungsbögen ineinanderwebend aus seinem Roman, an manchen Stellen fast atemlos, die Zuhörer gingen mit und applaudierten langanhaltend. Stanišić strahlte und meinte: "Ich freu mich so!!" Auf die Frage nach Zusammenarbeit mit dem Autor erläuterte Verlegerin Kammerer, die sein Manuskript stets als Erste zu sehen bekommt, dass sie beide lange an Texten arbeiteten, "wir ringen oft, aber es ist ein gutes Ringen, weil wir beide noch nicht ganz zufrieden sind, abe es sein wollen." Lektor Martin Mittelmeier sei extrem empfindlich, "wenn ich es zu unt treibe; er schreibt dann 'Naja' an den Rand. Dann weiß ich schon, dass ich das streichen muss".

Von der Herkunft zur Ankunft: Wann hatte Stanišić das Gefühl, in Deutschland angekommen zu sein? "Wir haben uns mit anderen Geflüchteten zusammengetan, damit alles leichter wird. Aber man lebt aus Koffern, kauft nichts, was von Dauer ist; weil alles so ungewiss ist, ist alles nur temporär." Bei einem Abendessen mit Menschen, die einfach nur Interesse an uns als Personen hatte, da sei das Gefühl des Ankommens gekommen. Hamburg sei inzwischen Heimat geworden: "Ich habe dort Menschen, denen ich vertraue, meine Familie lebt dort."