Friedenspreisverleihung in der Frankfurter Paulskirche

Sebastião Salgado: "Wir dürfen den Blick nicht abwenden"

20. Oktober 2019
von Börsenblatt

Migranten, Ausgebeutete und Verbannte, Opfer von Krieg, Genozid und Klimawandel: Ihr Unglück hat der brasilianische Fotograf Sebastião Salgado jahrzehntelang dokumentiert und in die Welt hinausgetragen. Ihnen widmete er auch seine hochemotionale Dankesrede – um den Friedenspreis, den er an diesem Buchmesse-Sonntag in der Frankfurter Paulskirche bekommen hat, mit ihnen zu teilen.

Salgado hält seine Dankesrede in der Paulskirche. Links hängt eine Repoduktion eines Fotos aus der Reihe "Genesis", rechts aus dem Projekt "Gold"

Unter den 700 Gästen in der Paulskirche waren auch Kulturstaatsministerin Monika Grütters und Bundesjustizministerin Christine Lambrecht. Das Publikum feierte Salgado, der den Preis "voller Rührung und Stolz" entgegennahm, mit Standing Ovations – für sein Werk, aber auch für seine aufrüttelnde Rede, in der sich seine traumatischen Erfahrungen als Kriegsfotograf widerspiegelten. Erinnerungen, bei denen die Zuhörer spürten, dass sie Salgado am Rednerpult mit voller Wucht trafen.

Salgado nahm seine Zuhörer mit auf eine beklemmende Reise zu den Menschen auf seinen Bildern – zu den portugiesischen und marokkanischen Einwanderern, die er Anfang der 70er Jahre in Frankreich fotografiert hat, zu den Tuareg, die zur selben Zeit vor einer schweren Dürre in Lager an den Rändern der Städte flüchten mussten, zu den Opfern der Völkermorde und Bürgerkriege in Burundi, Ruanda, dem ehemaligen Jugoslawien.

"Diese Männer, Frauen und Kinder gehören zu den Ärmsten der Menschheit. Sie bilden eine riesige Armee von Migranten und Verbannten, von ausgebeuteten Arbeiterinnen und Arbeitern, von Opfern von Krieg und Genozid", so Salgado in seiner Dankesrede: "Es sind die Betroffenen von Hungersnöten, Dürrezeiten, Klimawandel und Abholzung; es sind die, die durch die Gier mächtiger, habsüchtiger Männer von ihrem Land vertrieben wurden, die der Mechanisierung der Landwirtschaft weichen mussten, die durch die Konzentration von Grundbesitz, durch ungeplanten Städtewachstum und brutale Wirtschaftssysteme, die von den reichsten Ländern der Welt kontrolliert werden, ihrer Existenzgrundlage beraubt wurden. Mit ihnen möchte ich diesen Preis heute teilen. Ich nehme ihn nicht für mich an; ich nehme ihn für sie an; ich nehme ihn mit ihnen an."

In seiner Zeit als Kriegsfotograf, zuletzt an der bosnisch-serbischen Grenze 1994, habe ihn ein schrecklicher Gedanke beschlichen, erinnert sich Salgado: "Konnte es sein, dass tief im Innern unsere natürlichste Neigung nicht 'einander zu lieben' war, sondern 'einander zu töten'?" Der Mensch sei immer des Menschen Wolf, so der Fotograf: "Aber die Zukunft der Menschheit liegt in unseren eigenen Händen. Um eine andere Zukunft zu errichten, müssen wir die Gegenwart verstehen. Meine Fotos zeigen diese Gegenwart, und so schmerzhaft der Anblick ist, wir dürfen den Blick nicht abwenden."

Salgado hat den Blick nie abgewandt, sondern es als seine Mission verstanden, Licht auf Ungerechtigkeit und Elend zu werfen. Er verband seine Rede auch mit einem ganz persönlichen Dankeschön an seine Frau Lélia, die seine Bücher gestaltet und mit der er gemeinsam das ökologische "Instituto Terra" im Amazonasgebiet gegründet hat: "Lélia hat mir durch ihre Liebe das Leben gerettet, als ich aus Ruanda kam, ein gebrochener Mann, heimgesucht vom Blut und vom Tod, dem ich begegnet war. Liebe Lélia, dieser Preis genauso dir wie mir". Am Ende der Dankesrede stand das Paar gemeinsam vor den Fernsehteams und Fotografen - und den applaudierenden Gästen.

Wim Wenders über Fotografie als Akt des Friedens

Die Laudatio hielt der Regisseur und Autor Wim Wenders, der Salgado und sein Wiederaufforstungsprojekt im Amazonasgebiet bereits 2014 in seinem Dokumentarfilm "Das Salz der Erde" porträtiert und sich schon immer intensiv mit Fotografie beschäftigt hat. Wenders' warme, kluge Rede, die auch an die Anfänge des Friedenspreises und die tiefe Friedenssehnsucht nach dem Krieg erinnerte, zeigte die enge Verbundenheit zwischen dem Fotografen und dem Filmemacher.

Ein Akt der Empathie oder der Distazierung? Unter welcher dieser beiden Vorzeichen ein Foto entstehe, lasse sich aus einem Bild herauslesen wie ein Wasserzeichen, so Wenders. "Uns an der Schönheit und Erhabenheit der Erde so teilhaben zu lassen, das kann nur einer, der vorher in ihre Abgründe gesehen hat, der die Hölle und das Fegefeuer durchquert hat, und der dem Horror selbst ins Auge geschaut hat, zu dem Menschen fähig sind." 

Zwei Bilder von Salgado waren in der Paulskirche zu sehen und rahmten das Podium ein: Eine Landschaftsaufnahme aus dem Norden Alaskas (aus der Reihe "Genesis") und ein fast apokalyptisches Bild mit Arbeitern in einer Goldmine (aus "Workers").

Mit seinen drei monumentalen Arbeiten "Workers""Exodus" und "Genesis" führe Salgado den Menschen die Bedingungen von Frieden vor Augen, betonte Wenders: "Es kann keinen Frieden ohne soziale Gerechtigkeit, ohne Arbeit, geben, es kann keinen Frieden ohne Anerkennung der Menschenwürde geben, und ohne die Beendigung der unnötigen Zustände von Armut und Hunger, und es kann keinen Frieden geben, ohne dass wir die Schönheit und Heiligkeit unserer Erde achten."

"Macht Euch die Erde untertan", heiße es in der landläufigen Übersetzung der Bibel, so Wenders weiter -   "was von einem Hochmut zeugt, der sich in Überheblichkeit und schließlich in Rücksichtslosigkeit verwandelt hat". Eigentlich, so der Laudator, hätte die Übersetzung der Genesis von Anfang an lauten müssen: "Ich vertraue Euch die Erde Eurer Fürsorge an, Ihr seid für sie verantwortlich."

In seinem Gesamtwerk lasse Salgado den Betrachter spüren, was der größte Feind des Friedens in der Gegenwart sei: "der brutale Niedergang des Mitgefühls, der Mitverantwortung, des Gemeinsinns, des grundsätzlichen Willens zur Gleichheit des Menschengeschlechts." Salgados Bilder würden entwaffnen, Verbindung, Nähe und Empathie stiften – das habe der Stiftungsrat des Friedenspreises erkannt, lobte Wenders. Die Auszeichnung lasse nicht nur Salgado, sondern auch seinen Beruf, sein Hand-Werk, sein Lebens-Werk in einem anderen Licht erscheinen, "eben als Werk des Friedens."

Heinrich Riethmüller über Fotografie als Auftrag an alle

"Sebastião Salgado zeigt uns die ganze Welt, die von der Zivilisation beschädigte, aber auch die von ihr noch unberührte": Das betonte Börsenvereinsvorsteher Heinrich Riethmüller bei der Preisverleihung: "Seine Fotografien müssen Auftrag sein, uns für den Erhalt der Schöpfung einzusetzen, aufzuwachen und unseren Lebensstil radikal zu ändern. Nur dann werden wir vielleicht eine Chance haben, der nächsten Generation einen lebenswerten Planeten zu hinterlassen." 

Der Friedenspreis ist mit 25.000 Euro dotiert und wird seit 1950 vom Börsenverein des deutschen Buchhandels vergeben. In diesem Jahr ging er zum ersten Mal an einen Fotografen. Mehr über die Begründung des Stiftungsrates finden Sie hier. Ein Porträt des Preisträgers können Sie hier nachlesen, mehr über seinen Auftritt bei der Frankfurter Buchmesse erfahren Sie hier. Der nächsten Print-Ausgabe des Börsenblatts, die am 24. Oktober erscheint, liegt ein Sonderheft mit allen Reden und vielen Fotos der Preisverleihung bei. Auf der Website des Friedenspreises lassen sich die Reden ebenfalls nachlesen.