Jürgen Horbach übers Wangenküssen und Händedrücken

Über Begrüßungsrituale

22. Oktober 2019
von Börsenblatt
Ein seltsamer Tanz – diese Begrüßungsrituale. Auf der Buchmesse werden sie zum Exzess und der Wangenkuss ist eine Kunst für sich. In seinem Gastspiel teilt Jürgen Horbach seine Erfahrungen und nicht immer freiwilligen Beobachtungen.

Früher habe ich es nicht getan, ganz früher sowieso nicht. Seit vielen Jahren tue ich es, mehr oder weniger richtig. Zunächst immer nur im Ausland, dann zunehmend auch im Inland. Selten mit wirklicher Freude, meistens mit einem Störgefühl. Die, die mir am fernsten waren, waren die, mit denen ich es zuerst getan habe. Die persönlichen Freunde waren die Letzten, aber auch in diesem Kreis ist es inzwischen obligatorisch, es hat allerdings Jahrzehnte gedauert. Es geht um ein Begrüßungsritual: Der Begrüßungswangenkuss, manchmal nur einmal rechts oder nur einmal links, oder rechts und links oder links und rechts wie bei den Franzosen und wenn es erforderlich ist – z.B. bei Schweizern – gar dreimal, links, rechts, links oder andersherum. Ich finde, dieses Ritual – seit Jahren nicht wirklich neu – hat noch einmal an Häufigkeit zugenommen. Oder ich bemerke die stetige Beschleunigung erst jetzt. Früher ging ich auf viel mehr Buchmessenparties als in den diesigen Jahren, einfach deshalb, weil viel mehr stattfanden.

Es ist ein bisschen wie beim Tanzen, das ich auch nicht beherrsche. Führt man nun rechts oder links herum, immer wieder mal wechselnd oder beständig in einer Richtung? Setzt man falsch herum an, das heißt, falsch aus der Sicht des Begrüßten – alles ist ja immer seitenverkehrt –, gibt es diese Korrekturen in Bruchteilen von Sekunden, die man trotzdem bemerkt. Jeder ist ein Korrekturprofi geworden. Eine bemerkenswerte Eigenschaft. Es ist nicht so schlimm, man kommt schon zum Zuge.

Für mich persönlich, der ich eher Abstand halte – was unbedingt als ein Zeichen der Zuneigung zu werten ist – sind auch andere, seit langem zu beobachtende und mich auch eingeholte Entwicklungen fremd. Gerne umarme und wangenküsse ich inzwischen Kolleginnen, Freundinnen, Lizenzbegeisterte, Agentinnen, Börsenvereinsfunktionärinnen, Vorständlerinnen. Gelernt ist gelernt, es hat gedauert, aber heute funktioniert es recht routiniert. Buchhändlerinnen kaum; seltsam. In den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts konnte ich aus nächster Nähe erleben, wie der damalige Verleger hemmungslos auch Männer umarmte, Schriftstellerfreunde, Journalisten, Verlegerkollegen und – was mich sehr irritierte – auch Literaturkritiker. Zu dieser Zeit eher ungewöhnlich und seiner Internationalität geschuldet. Oh Gott, nein, hier finden keine Phobien statt. Es ereilte mich auch, später, und ich musste mich jüngst dabei beobachten, wie ich den von mir sehr geschätzten scheidenden Vorsteher am Ende des Friedenspreisessens zu einer herzlichen Umarmung nötigte. Im Nachhinein tat er mir leid. Jedenfalls fiel mir der Unterschied auf, es gibt diese Begrüßungswangenküsse, aber Männer umarmen sich. Das hat Gründe.

Es ist nicht ganz leicht, in einem beruflichen Umfeld zu arbeiten, in dem Begrüßungsrituale zum Standard gehören, die früher nur sowjetisch sanktioniert waren. Die sozialistischen, sogar intimen Brüderküsse der Genossen Chrustschow, Breschnew und Gorbatschow setzten zwar Maßstäbe, aber immer war man doch froh, nicht dabei zu sein. Politikerin möchte man heutzutage nicht sein.

Gewiss, es ist alles eine Frage der Kultur. Südeuropäer, Südamerikaner, Nordamerikaner begrüßen anders, Asiaten ganz anders. Franzosen, Italiener, Iren und Engländer? Vielleicht haben wir ja doch etwas von den Gastarbeitern früher und den heutigen Migranten gelernt oder davon, dass so viele aus dem Land der Bücher in so vielen anderen Ländern unterwegs sind. Reisen bildet bekanntlich. Zumal es beim Begrüßen ja nicht um einen selbst, sondern um den Begrüßten geht. Dem gilt der Gruß, nicht der eigenen Befindlichkeit.

Früher gab man sich die Hand. Das war Usus. Gibt es noch, aber abnehmend, wenn doch, dann bei Frauen, vielleicht als Distanzsignal zum Begrüßungskusswahnsinn. Händedrucktechnisch haben die Frauen dabei Jahr für Jahr erheblich und kräftig nachgelegt. Nicht auszudenken, wenn man darüber nachdächte, was alles und wie einer was oder wen kräftig begrüßen könnte: Präsidentenwahlsiege, Kriege, Friedensschlüsse, Auditorien, identische Meinungen, kontroverse Meinungen, einzelne Bücher, die Würde des Menschen usw. Nichts davon kommt einem jedoch für Sekunden so haut-nah wie ein noch so distanzierter Begrüßungskuss. Aber dieser lässt einen irgendwie kalt – und die politischen und moralischen Umtriebe?

Man muss nur lange genug warten, dann ändern sich die Gewohnheiten wieder. Aktuell ist angesichts der großen Fragen relevant: Was trägt der von allen praktizierte Begrüßungswangenkuss in unserer Branche zur Lösung der Handke-Vermutung bei?