"Tod eines Kritikers" von Martin Walser

Walsers aufsehenerregendes Alterswerk

6. Dezember 2019
von Börsenblatt
Ein Fortsetzungsabdruck im Börsenblatt, der Sie inspirieren könnte: Wie wäre es mit einem Skandal-Bücher-Tisch in Ihrer Buchhandlung? Clemens Ottawa hat die öffentlichen Diskussionen von 61 "Skandalbüchern" nachgezeichnet, zehn daraus lesen Sie hier!

Martin Walser war und ist beliebtes Ziel von Literaturkritikern. So meinte er einmal, mehr oder weniger in Richtung Marcel Reich-Ranickis: »Dieser Kritiker weiß genau, daß die Selbstherrlichkeit seiner Position in ihm Eitelkeit und Größenwahn produziert. Das bekennt er nur zu gern.« Das Verhältnis zwischen dem Autor und dem Literaturkritiker war seit den 1990er Jahren zerrüttet, Grund dafür waren Reich-Ranickis Verrisse der letzten Walser-Werke und dessen verletztes Ego.

Der Auslöser, der den Skandal dieses Buches bedeutete, ereignete sich sogar noch vor dem Erscheinen. Der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher (1959–2014) hatte einen Vorabdruck des neuen Martin-Walser-Buches, das den Titel Tod eines Kritikers trug, erhalten. Nachdem er die Textsendung gelesen hatte, verweigerte er einen Abdruck in seiner Zeitung. Schirrmacher wurde daraufhin vorgeworfen gegen »journalistische Anstandsregeln« verstoßen zu haben, doch dieser entgegnete, kein Buch in Auszügen abzudrucken, das den »Mord an einem Juden« zum Thema habe, und er meinte weiter: »(...) elementare Anstandsregeln« des gesellschaftlichen Zusammenlebens seien durch »das Buch verletzt worden«. Der Autor meldete sich nun auch zu Wort und sagte, dass er keine Ahnung habe, von welchem Buch Schirrmacher hier spreche, seines könne es nicht sein, und wenn ihm der Journalist hier öffentlich vorwarf, Antisemit zu sein, sei das eine infame Lüge – vielmehr halte er Schirrmacher selbst für einen.

Dass Martin Walser (geboren 1927) immer für eine Überraschung gut ist, weiß man nicht erst seit seiner launigen Dankesrede, im Zuge der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahre 1998. Als er dort von einer »Instrumentalisierung des Holocaust« sprach, war der öffentliche Aufschrei unüberhörbar. Der Autor wurde mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert, fühlte sich selbst aber vollkommen unverstanden. Die Laudatio bei der Preisverleihung hatte ironischerweise Frank Schirrmacher gehalten.

Walsers literarische Antwort gut vier Jahre später war in diesem Zusammenhang allerdings sehr unglücklich. Als Tod eines Kritikers 2002 erschien, war es für die meisten klar, wen Walser mit dieser Anspielung gemeint haben könnte, denn die Figur des Starkritikers in seinem Buch wies die physiognomischen Besonderheiten, die ausufernde Körpersprache, die Argumentationsstrategien und vor allem die sprachlichen Eigenheiten (etwa die Aussprache des Wortes Literatur als »Literatür«) Reich-Ranickis auf. Der legendäre FAZ-Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki (1920–2013) war 1998 einer der schärfsten Kritiker des Autors gewesen, dann folgte ein öffentlicher verbaler Schlagabtausch der beiden »alten Herren«, der in Tod eines Kritikers nun einen Höhepunkt erlebte. Noch bevor der Roman überhaupt erschienen war, meldeten sich Autorenkollegen, wie Ralph Giordano oder Günther Kunert zu Wort und auch Walter Jens kritisierte Walser. Kunert sagte: »Wenn man schreibt und verrissen wird, hat man eben Pech gehabt, aber ein Charakterzug der Deutschen besteht darin, sich unentwegt als Opfer zu fühlen.« In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung am 19. September 1998 kam Walser, Kunerts Kritik direkt bestätigend unüberlegt oder gut überlegt, der Satz »In unserem Verhältnis ist er (Reich-Ranicki) der Täter und ich bin das Opfer. Jeder Autor, den er so behandelt, könnte zu ihm sagen: Herr Reich-Ranicki, in unserem Verhältnis bin ich der Jude« über die Lippen.

In diesem Buch nun, das sich um das Verschwinden des jüdischen Starkritikers André Ehrl-König dreht, welcher Literaturkritik vor allem in Form der Selbstinszenierung betreibt und der den letzten Roman des Mordverdächtigen Autors Hans Lach verrissen hatte, kritisiert Walser den gesamten Literaturbetrieb und die Macht der Rezensenten. Der Roman war eine bewusste Provokation und Abrechnung Walsers mit dem brisanterweise ebenfalls jüdischen Literaturkritiker Reich-Ranicki. Und es war zudem ein fiktives Szenario davon, was passieren würde, wenn man einen ungeliebten Mann einfach »aus dem Weg räumt«. Der Frankfurter Suhrkamp Verlag hatte nach all den öffentlichen Streitereien, noch vor Erscheinen des Buches Skrupel wegen der Veröffentlichung und überlegte lange, was man nun tun sollte, es gab Überlegungen, das Werk vorzuziehen, aus marktstrategischem Kalkül, da es bereits überaus viele Anfragen gab. Das Berliner Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus hatte den Suhrkamp Verlag unterdessen aufgefordert, das Buch gar nicht herauszugeben.

Der Sturm der Entrüstung war also schon im Vorfeld groß und Martin Walser wurde nach Erscheinen des Buches erneut mit schweren Vorwürfen des Antisemitismus und der Gewaltaufforderung bedacht. Den letztlichen Verkaufszahlen tat dies, wie immer solchen Fällen, natürlich keinen Abbruch, auch wenn das Buch insgesamt öffentlich eher negativ aufgenommen wurde.

Irgendwann leugnete Walser indirekt übrigens gar nicht mehr, den berühmten Literaturkritiker gemeint zu haben. »Man darf in der Literatur jede beliebige öffentliche Figur parodieren, warum nicht Reich-Ranicki?«, fragte er.

Am Ende der ganzen Causa verließ Walser, der die Diskussion um seinen Roman als »Hinrichtung« empfand, den Suhrkamp Verlag, da dieser ihn während dieser ganzen Debatte rund um den Roman zu wenig unterstützt hatte. Der Autor fand im Rowohlt Verlag einen neuen Stammverlag. Rückendeckung erhielt Walser von Schriftstellerkollege Günter Grass und dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder. Beide sprachen von einem »Feuilletonkrieg zu Lasten von Walser«, gaben jedoch auch zu, das Buch nicht gelesen zu haben.

Marcel Reich-Ranicki übrigens las den Roman sehr wohl und kam zu dem Urteil, dass dieser der »totale Zusammenbruch eines Schriftstellers« sei. Überraschend kam dieses Urteil nicht.

Literarisches Genre: Roman (2002)
Herkunftsland: Deutschland

Dieser Text stammt aus dem Buch "Skandal. Die provokantesten Bücher der Literaturgeschichte! von Clemens Ottawa. 

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