Jahrestagung der IG Belletristik und Sachbuch: Keynote der Vorsteherin

Die Wahlfreiheiten

21. Januar 2020
von Börsenblatt
Verlegerin Karin Schmidt-Friderichs (Verlag Hermann Schmidt) ist seit Oktober Vorsteherin des Börsenvereins. Bei der Jahrestagung der Interessengruppe Belletristik und Sachbuch hat sie heute in München eine Rede gehalten, die auf das Selbstverständnis der Branche zielt - und auf den Gestaltungsspielraum jedes Einzelnen. Die Rede im Wortlaut.

(Es gilt das gesprochene Wort)

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Buchbegeisterte, liebe Leseglück-Möglich-Macher*innen,

Zum Jahreswechsel habe ich mich gefragt, was wäre, wenn wir alle immer nur Jahresverträge hätten. Wenn also das neue Jahr ein wirklich neues Jahr wäre. Die Karten neu gemischt würden …

Wenn wir alle uns zum Jahresende fragen müssten und fragen würden, ob wir uns auf die Stelle, die wir gerade innehaben, wieder bewerben wollen. Auf diese Stelle. In diesem Unternehmen. In dieser Branche.

Wir würden uns dann natürlich auch fragen müssen,

  • ob wir die aktuell nötigen Kompetenzen mitbringen. Für diese Stelle. In diesem Unternehmen. In dieser Branche im Wandel.
  • ob es diese Stelle – würden die Karten neu gemischt – so überhaupt noch gäbe? Wir würden uns fragen, ob wir in volatilen, unsicheren und komplexen Zeiten, in denen es oft keine eindeutigen Antworten mehr gibt – und schon gar keine eindeutig richtigen – richtig führen.
  • ob wir die richtigen Maßnahmen ergreifen, um die richtigen Talente zu finden, zu binden, zu fordern und zu fördern.
  • ob wir genügend Transparenz walten lassen, um High Potentials ihr volles Potenzial entfalten zu lassen. Ob wir Mut und Vertrauen an die Stelle von Macht und Kontrolle setzen.
  • ob wir auf veränderte Marktstrukturen mit veränderten Markstrategien antworten. Und verändertem Konsumentenverhalten mit veränderter Ansprache begegnen.
  • ob wir in einem veränderten medialen Umfeld in der Lage sind, Buchbegeisterung zu triggern und Leselust zu fördern.
  • ob wir wirklich alles dafür tun, Leser*innen Orientierung zu geben und ihnen mit leidenschaftlich kuratierten Programmen und Sortimenten den sicheren Weg zum nächsten Lesevergnügen zu ebnen.

Wir würden aber nicht nur Dinge fragen, die die eigene Position betreffen und das eigene Unternehmen. Wir würden auch darlegen müssen, wie wir zu Ellenbogen-Mentalität und Konfrontation stehen – und wie zum Konzept brückenbauender Kooperation.

Ob wir an die alte Dualität von Siegen und Verlieren glauben oder eventuell einem kultivierten Miteinander im Sinne von "Leben und leben lassen" das Wort reden. Wir würden uns dazu äußern müssen, ob wir Vielfalt für diese ganz besondere Branche überlebensnotwendig finden oder ob wir komplexitätsreduzierende Einfachheit für das Gebot der Stunde halten. Wir müssten uns vielleicht sogar positionieren zu einem der dichtesten und besten Buchhandelsnetze der Welt, der weltbesten Branchenlogistik und deren Wert für die Zukunft der Branche.

All diese Fragen würden uns mit schöner jährlich wiederkehrender Regelmäßigkeit auf einer Meta-Ebene über unser Tagesgeschehen nachdenken lassen. Und die vielen Entscheidungen, die wir im daily business für "alternativlos" halten, würden wir als Wahlfreiheit erkennen und als Gestaltungsspielraum anerkennen. Wir würden uns in Bezug auf die zur Wahl stehenden Alternativen positionieren müssen.

Und ganz vielleicht müssten wir uns sogar die Frage gefallen lassen, ob wir mit unserem täglichen Verhalten infrage stellen wollen, dass der Gesetzgeber uns für so kulturrelevant und kultiviert hält, dass er uns unter den Schutz der gesetzlich verankerten Preisbindung stellt. und unser kulturelles Engagement mit dem verminderten Mehrwertsteuersatz auszeichnet.

Ich gehe davon aus, dass – gäbe es all diese Job-Interviews - Sie alle dann dennoch hier wären. Weil Sie all die gestellten Fragen eindeutig und klar beantwortet hätten. Im Sinne von Buchkultur und Zukunfts-Zugewandtheit. Sie wären also hier – ich dagegen muss mich in dieser neuen Rolle ja erst noch beweisen.

Nun hätten wir also alle unsere Jobs - noch oder wieder, aber diejenigen, auf deren Leistung wir unsere Erfolge bauen - unsere Mitarbeiter*innen- stünden ja ebenfalls vor der Frage, ob sie sich wieder bewerben: auf diese Stelle in diesem Unternehmen in dieser Branche.

Wir hätten also schon das ganze Jahr über intensiv darüber nachdenken müssen, ob wir die richtigen Geschichten erzählen über unsere Arbeit und unsere Leistung, über unsere Unternehmen und unsere Branche. 

Wir würden Konzepte entwickeln, die jungen Menschen, deren wichtigste Werte die Sinnhaftigkeit der Arbeit und die Vereinbarkeit von Familie und beruflicher Erfüllung sind, die richtigen Konzepte von Arbeit anbieten. Ob wir sie fair entlohnen, ob wir Lohnstrukturen transparent machen und gendergerecht zahlen.

Wir würden uns das ganze Jahr über vergegenwärtigen, dass die Konkurrenz in einem Markt der Talente vielleicht gar nicht der oder die direkte Mitbewerber*in im selben Marktsegment ist, sondern neue Content-Konzepte, die vollkommen jenseits unserer direkten Konkurrenzbeobachtung gedeihen.

Wir würden uns fragen, ob wir mit deren Start-up-Kultur mithalten können, mit ihren agilen Prozessen, ihrer Dynamik. Wir würden uns fragen, ob wir dialogisch führen oder hierarchisch und ob wir Eigenverantwortung und Involvement belohnen. Ob wir etwas anbieten, mit dem sich junge Talente identifizieren können. Wofür sie brennen. 

Der Jahreswechsel wäre dann nicht mehr nur die Zeit der Inventur der Waren, sondern vielmehr eine Zeit der Inventur des Wissens, des Wesens und der Werte. Wir würden die Zeit zwischen den Jahren dann vielleicht dafür nutzen, um zu überlegen, wie wir jungen Buchbegeisterten Mut machen, eine der vielen durch die Altersstruktur ihrer Inhaber*innen demnächst auf den Markt kommenden Buchhandlungen zu übernehmen. Oder einen Verlag. Auch da soll es ja Inhaber*innen geben, die nicht ewig leben. Oder zumindest nicht ewig arbeiten wollen. Wir würden sie vielleicht dabei unterstützen; in den Spuren der Alten neue Wege zu finden.

Wir würden darüber nachdenken, ob es jenseits von Übernahmen neue Konzepte geben könnte. Ein Revival der Genossenschaft oder ein Ausbau von Business-Angel-Konzepten. Gleitende Nachfolgen statt abrupter Unternehmensverkäufe. Vielleicht sogar unter Einbeziehung der Stammkundschaft, die ihre Buchhandlung als „dritten Ort“ der Inspiration und Begegnung nicht verlieren will.

Oder unter Einbeziehung der Autor*innen, die wir Verlage so von unserer Leistung überzeugt hätten, dass sie uns nicht mehr als „Verwerter*innen“ sähen, sondern als Coaches. Auf dem Weg zu Büchern, auf denen zwar Verlagsmarken stehen, nie aber die Namen der Hebammen und Geburtshelfer*innen, die wir schnöde Lektorat nennen. 

Wir würden dann vielleicht sparten- und unternehmensgrößenübergreifend Konzepte zur Zukunftsfähigkeit dieser Branche entwickeln und miteinander umsetzen. Weil uns mitten in all der Unsicherheit und Ambiguität klar würde, dass es gar nicht so sehr um uns geht, wie wir das immer denken, sondern um das Glück der Leser*innen, in deren Dienst wir eigentlich stehen.

Dann wären wir vielleicht sogar für einen Moment stolz drauf, einen spartenübergreifenden Verband geschaffen zu haben vor 195 Jahren, der so etwas wie die Verkehrsordnung hervorgebracht hat. Und etwa den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Der den Deutschen Buchpreis auslobt und damit ein hohes Maß an Aufmerksamkeit auf ein Buch lenkt. Aber auch auf das Buch und das Lesen an sich. Der nun den Deutschen Sachbuchpreis daneben stellt und damit Fake News und Cambridge Analytica die Stirn bietet. Weil Bücher in Zeiten von Hate Speech und Manipulation dank kompetenten Lektorates solide Information anbieten – zumindest die der meisten Verlage.

Wir würden dann vielleicht sogar unser Branchen- Grundgesetz mal wieder zur Hand nehmen: die Verkehrsordnung. Den leichten Staubfilm, der sich darauf gelegt hat wegpusten, sie lesen – und gute Vorsätze fassen … 

All das können wir auch ohne das Gedanken-Experiment tun, das meinen Ausführungen zugrunde liegt. Wir zusammen sind diese Branche. Was wir sagen und was wir tun, macht diese Branche zu dem, was sie ist. Mit unserem täglichen Verhalten entscheiden wir darüber, wie die Zukunft in dieser Branche aussieht.

Und wenn wir manchmal für kurze Momente das Gefühl haben, eine Entscheidung sei "alternativlos", dann möchte ich diesem Euphemismus die Worte einer Installation der Künstlerin Jenny Holzer entgegensetzen: "Remember, you always have freedom of choice!"

In diesem Sinne wünsche ich uns Mut und ein kultiviertes neues Jahr, in dem wir Buchbegeisterung leben und die Freude an der Vielfalt.

Danke!