Interview mit Messedirektor Oliver Zille

"Ein Fest, vor dem sich jeder fürchtet, ist kein Fest"

4. März 2020
von Börsenblatt
Die Leipziger Buchmesse, die vom 12. bis 15. März stattfinden sollte, wurde gestern abgesagt. Wie hoch ist der wirtschaftliche Schaden? Was passiert mit dem Preis der Leipziger Buchmesse? Warum gab es am Sonntag noch die forsche Ansage, die Buchmesse finde wie geplant statt? Antworten von Oliver Zille, Direktor der Leipziger Buchmesse. 

Die Absage der Leipziger Buchmesse ist seit 75 Jahren, immerhin seit dem Zweiten Weltkrieg, ohne Beispiel. Wie geht es Ihnen, wie geht es dem Buchmesse-Team? 
Oliver Zille: Momentan muss ich sagen: Wir wissen nicht genau, wie es uns geht. Bei mir persönlich ist es ein in-between. Das Loch wird noch kommen. Es ist eine seltsame Atmosphäre: Einerseits haben wir gerade eine Absage formuliert, anderseits sind wir, wie seit Wochen, noch in voller Bewegung, die Messe vorzubereiten. Das zerreißt einen fast! Ich frage mich jetzt natürlich, was unsere Mannschaft braucht, um sich wieder aufzubauen? Die eine Messe muss rückabgewickelt werden, 2021 muss vorbereitet werden. Jetzt will natürlich niemand an Vorbereitung denken. Es fehlt dieses kulminierende, und dann entspannende Moment, das ist durch nichts zu ersetzen. So wie die Buchmesse durch nichts zu ersetzen ist.

Ein wenig Dr. Jekyll und Mr. Hyde...
Bis letzte Woche gab es einen Sachstand – repräsentiert durch die Gesundheitsämter -  und einen Medienstand. Danach gab es zunächst keine Einschränkungen für unseren Veranstaltungsbetrieb. Wir mussten aber konstatieren, dass sich die Situation mit dem Corona-Virus weiter verschärft hat, dass die Töne in den Medien schriller wurden, auch bei den Besuchern, die hier angefragt haben. Es war zu befürchten, dass das irgendwann einen Kipppunkt erreicht, wo man das nicht mehr zurückdrehen kann. Allerdings haben die Aussteller in der ganzen Zeit – bis auf die letzten zwei Tage – fest zur Leipziger Buchmesse gestanden. Es gab keine Absagen, der Tenor war: Wir wollen uns nicht verrückt machen lassen. Vorsicht ist wichtig – aber keine Panik! Seit Montag hat sich das massiv gedreht. Ein Fest, vor dem sich jeder fürchtet, ist kein Fest.

War die forsche Ansage vom Sonntag - "Leipzig findet statt, alles cool" - ein Fehler?
Unsere Überzeugung war: Wenn wir kommunizieren, müssen wir klar kommunizieren. Wenn wir wollen, dass die Messe stattfindet, sind wir die ersten, die das klar zum Ausdruck bringen müssen! Glasklar! Das hat einige getroffen, Tenor: Wie können die denn? Für uns war klar: Kein Statement, das Raum für Interpretationen zulässt. Und am Ende eine Absage schon impliziert, die wir zu dem Zeitpunkt nicht geben wollten. Zumal wir immer nach Sachlage zu entscheiden hatten. Nach den Rahmenbedingungen des Gesundheitsamts, das dem RKI und dem Gesundheitsministerium folgt. Wenn es da heißt „geringe Ansteckungsgefahr“ – dann müssen wir uns nach der Sachlage richten. Und nicht nur nach dem Gefühl der Menschen. Bis Samstag war diese Dynamik noch nicht gegeben. Montag schon. Da stand bei vielen die Frage: Springt jetzt die Leipziger Messe? Oder soll ich als Aussteller springen? Es war, wenn man so will, eine Last-Minute-Entscheidung: Morgen, am Mittwoch, beginnt bei uns planmäßig der Aufbau. Und es war klar, dass wir heute eine Entscheidung treffen müssen, wenn man einigermaßen geordnet abwickeln will. Für die Branche ist es ein gewaltiger Schaden, dieses Fest der Lese- und Literaturbegeisterung nicht feiern zu können; Möglichkeiten der Begegnung, des Austauschs, der Inspiration fehlen jetzt. Auch die Interessen unserer Kunden, denen wir im nächsten Jahr wieder in die Augen schauen, hatten wir abzuwägen. In den letzten Stunden gab es dann zusätzlich Lageveränderungen im Minutentakt, besorgte Stimmen aus der Ausstellerschaft und vereinzelte Absagen, auch aus dem Kreis der Länder unserer Südosteuropa-Schwerpunktregion Common Ground. Und: Schwerpunkt Leseförderung in Zeiten von Corona? Auch nicht so einfach... 

Der Druck muss gewaltig gewesen sein...
Ich bin stolz auf die Mannschaft. Hier gingen Einladungen zu Standpartys ein, gleichzeitig bange Fragen: Findet die Messe nun statt? Oder doch nicht? Unsere Routiniers im Team haben all die mitgenommen, die noch nicht so lange bei uns sind. Nur mit einer Mannschaft, die sich die Bälle im Zweifel auch blind zuwerfen kann, kann man so etwas durchstehen. Deswegen bin ich guter Dinge, dass wir die Situation meistern. Und uns vielleicht auf dem Weg zur nächsten Leipziger Buchmesse noch ein paar Überraschungen ausdenken.

Leipzig ist jeden März der Ort eines riesigen Lesefests – wie groß ist der Schaden für die Stadt und ihre Bürgerinnen und Bürger?
"Leipzig liest" ist ja, wenn Sie so wollen, nichts von oben Verordnetes, sondern hat viele Akteure, von den Ausstellenden Verlagen bis hin zu unseren Partnern in der Stadt. Der Verlust lässt sich gar nicht in Euro und Cent auflisten – wenngleich es natürlich pekuniäre Auswirkungen haben wird. Die Leipziger Buchmesse ist definitiv ein erheblicher Wirtschaftsfaktor für Stadt und Region. Ein auf der Messe erwirtschafteter Euro sind rund sieben Euro in der Stadt...

Wie ist die Entscheidung konkret gefallen?
Die Stadt Leipzig und die Buchmesse haben das gemeinsam entschieden. Es gab am Dienstag um zehn eine Besprechung mit dem OBM und dem Gesundheitsamt im Rathaus. Wir haben dem Gesundheitsamt einen Plan vorgelegt, wie wir unter der Situation agieren würden. Das Amt ist der Aufforderung der Bundesministerien für Gesundheit und Wirtschaft gefolgt, die gefordert hatten, eine schriftliche Nachverfolgung von Kontaktpersonen sicherzustellen. Das ist in der Dimension schlicht nicht möglich. Dann kam die Frage: Kann man die Leipziger Buchmesse verschieben? Das ist nicht durchführbar. Ein Literaturevent mit 3.700 Veranstaltungen lässt sich nicht eben vier oder sechs Wochen später noch einmal stemmen. Ganz abgesehen davon, was der Virus dann macht. Das alles ist aus unserer Perspektive folgerichtig – aber oberbitter.

Wie sieht es mit dem wirtschaftlichen Schaden für die Messe aus? Gibt es eine Ausfallversicherung?
Hierzu werden sich jetzt mein Team und der Finanz- und Rechtsbereich der Messe sich zusammensetzen und das genau definieren: Wo sind Kosten angefallen, wo ist noch nichts passiert?

Standgebühren werden die Aussteller nicht tragen müssen?
Daran wird gerade gearbeitet. Da folgen wir natürlich auch unseren Geschäftsbedingungen. Wir sind im Haus dabei, eine Taskforce zur Rückabwicklung zu formieren, das kann mein Team nicht allein leisten. Wie es im Detail und für jeden einzelnen Aussteller ausschaut, kann ich jetzt, wenige Stunden nach der Entscheidung, noch nicht sagen.

‚Und jetzt weiter zur LitCologne’, diesen sarkastischen Satz konnte man heute im Netz lesen. Mit welchen Gedanken schauen Sie nach Köln? 
Jeder muss am Ende nach den Rahmenbedingungen, die ihm gesetzt sind, seine Entscheidung treffen. Ich glaube, unter den jetzt herrschenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ist es schwierig, ein fröhliches Literaturfest zu feiern. Als Messe scheitert man am Ende in dieser Situation auch an formalen Kriterien, die derzeit für Großveranstaltungen gelten.

Was wird aus den markantesten Veranstaltungen und Preisen? Gibt es Ausweichpläne, etwas für den Preis der Leipziger Buchmesse, den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung?
Der Preis der Leipziger Buchmesse dient auch der PR der Frühjahrsliteratur - der muss jetzt stattfinden! Und er wird – genau am selben Tag, fast zur selben Zeit – stattfinden. Die Jury wird tagen, es wird drei Preisträger geben. Wir sind mit unseren Partnern gerade in der Abstimmung, was da genau passieren wird. Was den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung betrifft, gibt es erste Ideen. Können wir, zeitversetzt, für die Branche auch eine Gala im Gewandhaus oder der Kongresshalle hinbekommen? Darüber werden wir zeitnah mit der Stadt Leipzig, dem Freistaat und dem Börsenverein sprechen. Den Preis László F. Földényi zwischen Tür und Angel zu überreichen, hielten wir jedenfalls für keine gute Idee. Und auch mit der Kurt Wolff Stiftung werden wir bald zusammenkommen und uns über eine angemessen würdige Vergabe des Kurt-Wolff-Preises unterhalten.

Lesen, Lieben, Leben – das haben uns die Leute von Wagenbach heute per Facebook-Post für die kommende Woche empfohlen. Der Verbrecher Verlag denkt laut über einen Ostsee-Urlaub nach. Was werden Sie tun?
(lacht, dann längere Pause): Was mich jetzt wirklich umtreibt ist, wie ich unser Team für den nächsten Marathon nach 2021 motiviere. Aber ich bin ziemlich sicher: Wir bekommen auch das hin.

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