Mein Lockdown-Tagebuch (2): Martina Bergmann über ein soziales Experiment

"Ich bin absolut ohne Sorge um meine Firma"

23. März 2020
von Börsenblatt

Ihre Buchhandlung in Borgholzhausen hat Martina Bergmann noch vor der offiziellen Verordnung zugesperrt, freiwillig und bis auf weiteres. Weil sie lieber schließt als geschlossen zu werden. Und eigentlich fühlt sie sich ganz wohl, so allein in ihrem Raum voller Bücher. Denn sie kennt ihre Kunden. Teil zwei unserer "Lockdown-Tagebücher", die als ganz persönliche Krisenbegleiter gedacht sind - geschrieben von Büchermenschen. 

Das sich verstetigende Gefühl, seit einigen Tagen: Es ist mein Raum, für mich! Die Buchhandlung wird auf absehbare Zeit allein meine sein, und ich muss sagen, das gefällt mir gut. Ich mag nämlich den Raum, die Sicht nach draußen, ich mag, wie das Licht zu verschiedenen Zeiten jeweils unterschiedliche Inseln von Hell und Dunkel schafft. Seit fast zehn Jahren bin ich beinahe jeden Tag in diesem Raum. Das ist länger, als ich nach dem Elternhaus jemals an einem Ort gewohnt habe.

Ich mag auch das Haus, in dem mein Bett steht, wo ich koche und auf dem Sofa sitze. Aber ich mag tatsächlich die Buchhandlung ein kleines bisschen lieber. Vielleicht aus Gewohnheit. Denn das private Haus haben wir für eine Weile zu dritt bewohnt, dann waren wir zwei, und nun ist die Kleine Oma auch schon ein paar Wochen nicht mehr dort.

Ich gebe zu, ich bin sehr froh, dass ich das entschieden hatte, bevor Corona drängend wurde. Es ist mir wahnsinnig schwer gefallen, im körperlichen Sinn. Ich musste sie mir buchstäblich von der Seele reißen, und natürlich hat sie es nicht verstanden. Sie war wochenlang tödlich beleidigt. Aber jetzt wohnt sie an einer schönen Stelle und lässt ausrichten, sie hält mir einen Platz am Tisch frei; egal, wann ich heute Abend zum Essen komme. Ihr ganz eigener Umgang mit Zeit ist im Moment ein Segen.

"Ich weiß nicht, wann ich zuletzt so erschöpft war"

Trotzdem: Ich weiß nicht, wann ich zuletzt so erschöpft war. Denn daneben musste ich in den letzten Wochen die zunehmend nervöser werdenden Kunden versorgen. Dies noch und das noch, dreimal anrufen, fünfmal anders entscheiden. Gutscheine, auf denen ich meine eigene Handschrift kaum mehr erkenne, so lange ist das her. Menschen rein und raus und hin und her, dazwischen ich selbst, deren Leben zu Hause sich nach über zweitausend Tagen mit alten Menschen in einen spätstudentischen Zustand zurückverwandelt. Das soziale Experiment: Bin ich mit über vierzig dieselbe Studentin wie vor fünfzehn Jahren? Kann ich das noch?

Und meine Buchhandlung, im wirtschaftlichen Sinn? Diese Kunden haben mit mir alles ausgehalten: Eine ruppige Gründung ohne Eigenkapital, Neugründung und Umschuldung keine drei Jahre später, einen Verlag, verschiedene Preise, einen Geliebten mit angehängter Oma, dessen sich ziehenden Krebstod, ihr Verbleiben bei mir, diese eigenartige Wahlverwandtschaft. Leider auch einen Stalker, vor Jahren.

Den hatte ich schon vergessen. Aber Kunden wussten noch, sie hatten Stallwache bei mir gehalten, damals. Die Kunden haben mir auch immer wieder bei schlechter Rede zur Seite gestanden, haben mich verteidigt mit Regenschirmen und Wortwaffen. Sie sind zu Lesungen beinahe quer durch Deutschland mitgefahren.

"Die Kunden sind super. Ich liebe sie (fast) alle."

Eines der schönsten Erlebnisse im letzten Jahr: Die Kundinnen aus Borgholzhausen und Versmold in der ersten Reihe, als ich in Leipzig las. Sie hätten aus dem vorgesehenen Programm ihrer Busreise nicht ausscheren müssen, aber da saßen sie nun eben. Was für wunderbare Kunden! Sie wussten zum Teil schon immer, dass ich bestimmt mal Bücher schreibe, eines Tages. Sie finden das prima und ertragen auch mit einiger Gelassenheit, dass sie mich mit einer etwas größeren Kulisse dauerhaft werden teilen müssen. Also: Die Kunden sind super. Ich liebe sie (fast) alle.

Aber ich habe schon am Dienstagmittag freiwillig zugesperrt, bis auf weiteres. Ich konnte diese Unruhe, das Gerenne und Gerede, all die Überdrehtheit, nicht mehr ertragen. An der Türe steht seither: "Die Buchhandlung ist zu Ihrer Sicherheit geschlossen. Alle anderen Kanäle sind offen." Es passt mir, dass ich anderthalb Tage schneller war. Ich schließe lieber als dass ich geschlossen werde. Kunden verstanden es und suchten sofort andere, für sie selbst oft neue Wege. Telefon, E-Mail, Facebook, Twitter und Instagram - geht alles. WhatsApp geht nicht, weil meine Handynummer wirklich privat ist. Man muss in der Krise nicht sofort alle Prinzipien fahren lassen, meine ich. Ich fand die Lokalzeitung super, das "Haller Kreisblatt". Sie hat ausführlich berichtet, wie wir Einzelhändler vor Ort agieren. Wir waren uns auch tatsächlich einig, ohne Rücksprache: Versorgung ja, aber nichts Illegales.

Um Kundenschwund mache ich mir wenig Gedanken. Kunden, die mir nach Leipzig folgen können, werden keine Schwierigkeiten haben, sich das Internet soweit zu erschließen, dass wir uns für eine Weile ausschließlich dort begegnen. Ich werde zu den normalen Ladenöffnungszeiten hier erreichbar sein, werde Bücher verkaufen, meinen neuen Roman weiterschreiben, der - keine Ironie - Zäsuren im Buchhandel zum Thema hat, und bin absolut ohne Sorge um diese Firma. Die hat schon ziemlich viel mitgemacht, ich auch. Wir sind hier, Freistraße 10 in Borgholzhausen.

Wenn am 16. Juli die Sperren aufgehoben wären, würde ich mich freuen. Dann feiern wir Geburtstag. Ich werde exakt zehn Jahre in diesem Raum verbracht haben, davon dann vielleicht ein paar Wochen allein. Wenn ich ganz ehrlich bin: Ich freue mich auf diese Zeit in meinem Raum. Danach will ich ihn auch gerne wieder teilen.

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