Mein Lockdown-Tagebuch (19): Martin Schult

Der zerrissene Schult

27. April 2020
von Börsenblatt
Martin Schult kümmert sich beim Börsenverein um den Friedenspreis, in seinem zweiten Leben ist er Autor. Gerade hat er seine "Pickel"-Mitte verloren und möchte beides sein, kritisch und folgsam zugleich. Sein Unterbewusstsein plant derweil den Tanz in den Mai. Ein Corona-Bericht über Freiheit und der allerletzte Teil unserer "Lockdown-Tagebücher". 

Gestern: Ich gehe aus dem Haus, setze mich aufs Fahrrad und winke meinem Nachbarn zu, der das Virus ja bereits bezwungen hat und sich nun für Euro-Bonds einsetzt. Es sind wieder mehr Autos unterwegs, aber noch sind sie freundlich und lassen mir die Vorfahrt. Im Büro stelle ich den Computer an, um weiter an der neuen Webseite für den Friedenspreis zu arbeiten. Etwas scheint nicht in Ordnung zu sein, aber ich brauche einige Zeit, bis ich es bemerke …

Irgendjemand hat – nicht besonders professionell, aber dennoch – den Kopf von Jan Assmann mit dem von Prinz Charles vertauscht – solch einen Spaß kannte ich bislang nur von Vier Hochzeiten und ein Todesfall, doch da war er gewollt. Aber wer hat sich jetzt die Freiheit herausgenommen, der Aleida einen neuen Partner anzudichten?

Die Freiheit ist ein wundersames Tier …

Vor ein paar Tagen: Da spielten sie im Radio ein Lied von früher, und ich war erstaunt, dass ich es noch immer auswendig mitsingen konnte. Sofort erinnerte ich mich auch wieder an jene Zeit, als ich Georg Danzer mit Freiheit zum ersten Mal gehört habe, als ich noch ein pickliger Jugendlicher gewesen bin, als die Welt gerade die bunten 70er verlassen hat. Sie hat sich in den 80ern zu einem Jahrzehnt entwickelt, in dem vieles passiert ist: Startbahn West, Pershing II, Bitburg, Tschernobyl, der Mauerfall.

Das hat mein politisches Gewissen geprägt und dazu passte der Danzer, auch wenn mich meine Freunde damals ausgelacht haben. Die Jugend ist halt gnadenlos. Dabei mochte ich doch auch andere Musik – AC/DC, Baccara (stimmt nicht, aber ich habe mit komischen Verrenkungen darauf getanzt), David Bowie, Village People, The Stranglers, Bots (jetzt werde ich rot), Grease und Madness – eine bunte Mischung, die ich in ihrer Gesamtheit auch mit drei Buchstaben umschreiben kann: PPP. Was nichts anderes heißt als entweder Punk, Pop und Pickel, oder einfach nur: peinlich, peinlich, peinlich …

Oder muss ich mich nicht schämen? Zurück zu einem Satz aus dem ersten Coro­na-Tagebuch, der auch in meinem neuen Roman stehen wird: Mein jetziges Ich ist die Summe aller Ichs, die ich jemals gewesen bin. Wenn dieser Geistesblitz stimmt, dann war ich schon immer eine Mischung, und zwar eine, gegen die ich nichts tun konnte. Und je nach Stimmung oder Situation drängelte sich immer ein anderes Ich vor. Manchmal aber schubsten ihn die anderen Ichs auch nach vorne – Los, du bist dran! – und dann musste dieses Ich selbst zusehen, wie es zurechtkommt.


… und manche Menschen haben Angst vor ihr … 

In meiner Jugend: Da ist es also noch halbwegs gut gegangen. Ich konnte auf Partys Pogo (in Togo) und gleich danach Schmuseblues (I’m not in Love) tanzen, beides voller Hingabe und ohne rot zu werden. Aber seit Corona ist es anders. Jetzt stimmt die Mischung nicht mehr, oder besser gesagt: Jetzt stehen zwei Ichs gemeinsam vorne, und jedes will was sagen. Das eine: Ich glaube an alles, was die Wissenschaft sagt, und ich halte mich daran, was die Politik will. Das andere: Das ist alles falsch, und die Politik trifft Entscheidungen, die übertrieben sind.

Das erinnert mich an mein erstes Studium: Meteorologie (immerhin ein Semester). In der ersten Vorlesung hat uns der Professor erklärt, dass es ein Fachgebiet sei, bei dem alle fünf Jahre ein neuer Term in die Formel für die Wettervorhersage hinzugefügt werde und sie damit verbessere. Dennoch würden wir niemals zu einer Formel kommen, die das Wetter tatsächlich auf die Wolke genau vorhersagen kann.

Mir kommt das jetzt immer in den Sinn, wenn Karl Lauterbach vor die Fernsehkameras tritt und etwas sagt, zum Beispiel, dass die jetzige Situation noch bis 2022 andauern könne. Wie er darauf kommt? Weil es auch in seiner Formel – wie in der Wettervorhersage – zahlreiche Variablen gibt, und wenn man diese nur mit den schlimmsten Szenarien füllt, dann dauert die Pandemie vielleicht wirklich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.


… doch hinter Gitterstäben geht sie ein … 

Heute: Die Buchhandlungen haben wieder offen. Dafür müssen wir alle Gesichtsmasken tragen. Die neue Friedenspreiswebseite füllt sich mehr und mehr. Die Menschen sind wieder mobiler, doch sie werden vielleicht unachtsamer. Der Stiftungsrat diskutiert intensiv über die Kandidat*innen für den Friedenspreis. Meine Haare werden länger. Und der Postbote stellt ein Paket jetzt eine halbe Treppe tiefer ab.

All das bestimmt meinen Alltag und hat – wie bei den meisten anderen Menschen – immer irgendeinen Bezug zur Pandemie. Aber je nachdem, welchen Satz ich voranstelle, erhöht es mein Einverständnis oder stärkt meine Skepsis. Ich bin keine zwei Öltanks, wie es früher in einem Werbespruch hieß. Und ich bin auch nicht doppelwandig, wie es der Plural vermitteln sollte. Ich bin zerrissen.

Denn ich möchte so gerne beides sein: kritisch und folgsam zugleich. Und das erinnert mich schon wieder an meine Jugendzeit, in der ich problemlos auf einer Demo USA, SA, SS! brüllen konnte, nur um gleich danach vor meinen Schwarzweiß-Fernseher zu sitzen und Die Waltons zu schauen. Wenn es möglich gewesen wäre, wenn ich also damals ein Smartphone besessen hätte, hätte ich vielleicht sogar während der Demonstration diese Serie geschaut.  


… denn nur in Freiheit kann die Freiheit Freiheit sein.

Das Corona-Virus aber hat alles verändert. Alles, was passiert oder gesagt wird, wird jetzt von meinen beiden Ichs gleichsam kommentiert. Ich habe meine goldene Mitte, meine Pickel-Mischung verloren. Zudem scheint mein eines Ich in seiner Bewertung immer extremer zu werden. Noch plappert es keine Verschwörungstheorie nach, die besagt, dass irgendjemand Böses den Virus bewusst in die Welt gesetzt habe. Und noch lässt es mich nicht brüllen, dass die Regierung unsere Menschenrechte missachte. Da ist mein verständiges Ich noch vorne – ach, ich vermisse mich, wie ich noch vor der Pandemie gewesen bin.

Und genau in dem Moment, in dem ich das schreibe, fällt mir ein möglicher Übeltäter ein, der den Charles neben die Aleida gesetzt haben könnte. Das war sicher kein böser Hacker, und auch keine zu Scherzen aufgelegte Kollegin. Ich selbst könnte es gewesen sein, vielmehr dieses Es, mein Unterbewusstsein. Normalerweise ist Es wie der riesige Teil eines Eisbergs, der sich unter der Wasseroberfläche befindet, und der den kleineren, sichtbaren und bewussten Teil daran hindert, fröhlich, ausgelassen und ungefährlich zu sein. Aber jetzt ist Es wohl auf einmal selbst aktiv geworden.

Ich weiß noch nicht genau, warum, und was Es mir damit sagen will. Aber es erinnert mich an etwas aus der Laudatio von Wim Wenders, die er vergangenes Jahr auf Sebastião Salgado gehalten hat: Martin Buber nannte sein Hauptwerk ICH UND DU. Denn erst durch die Begegnung mit dem Gegenüber werden wir zum ICH. Vielleicht meint Es ja das: Geh raus aus der Wohnung, setz den Mundschutz auf und lass deine beiden Ichs auf ein Du los. Am besten als Tänzer in den Mai mit dem Lied einer Berliner Band mit dem seltsamen Namen Theodor Shitstorm: Wasch dir die Hände und tanz die soziale Distanz!  

Dann wird die Freiheit auch nicht hinter irgendwelchen Gitterstäben eingehen.

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