Corona und die Fachmedienbranche

Digitale Antikörper

30. April 2020
von Nils Kahlefendt
Die Corona-Pandemie sorgt in der Fachmedienbranche für einen Digitalisierungsschub. Verlage und Händler setzen verstärkt auf elektronische Inhalte und Geschäftsmodelle – doch nicht jeder Buchhändler profitiert von dieser Entwicklung.

So etwas wie zu Semesterbeginn am vergangenen Mittwoch hatten sie bei utb noch nicht erlebt: Nachdem sich die Zugriffszahlen zum Teil vervierfachten, gingen streckenweise die Server in die Knie. »Es war ein mittlerer Nachfrage-Tsunami«, sagt Geschäftsführer Jörg Platiel.

Wie die Fachverlage auf Corona reagieren

Die Stuttgarter hatten auf eines der drängendsten Probleme der Hochschulbibliotheken in Corona-Zeiten reagiert: Umgehend nach dem Lockdown erhielten die Bibliotheken das Angebot, alle Titel der Lehrbuchplattformen utb-studi-e-book und die Titel der scholars-e-library sofort zum Festpreis freizuschalten. Bis Ende Oktober haben die Bibliotheken nun Zeit, diejenigen Titel auszuwählen, die über die vereinbarten EBS-Gebühren (Evidence Based Selection) dauerhaft erworben werden.

»Teilweise mussten wir regelrechte Aufklärungsarbeit gegenüber Studierenden und Dozenten leisten, die sonst eher selten anrufen«, sagt Platiel. »Viele waren sich nicht sicher, welche E-Book-Angebote die eigene Hochschule überhaupt lizenziert hat.« Mittlerweile haben sich die Zugriffe auf hohem Niveau eingepegelt: »Von Kurzarbeit ist bei uns nicht die Rede – eher von Überstunden ohne Ende.«

Während die Corona-Krise bei digitalen Geschäftsmodellen für einen kräftigen Schub sorgt, bekommt Platiel mit Blick auf die Absätze beim gedruckten Buch durchaus schon mal Sorgenfalten.Zwischenzeitlich sackten die Umsätze hier bis zu 30 Prozent ein; inzwischen hat Print wieder etwas aufgeholt. Allerdings: »Nach Corona«, davon ist Platiel überzeugt, »wird unsere Welt etwas anders aussehen als zuvor.«

Davon geht man auch in den 16 Gesellschafterverlagen von utb aus. Zahlreiche Aktionen rund um Corona hat das utb-Mitglied Ernst Reinhardt Verlag mit seinen Schwerpunkten Psychologie, Pädagogik und Gerontologie/Altenpflege aufgelegt. »Wir haben verstärkt Werbe-E-Mailings und Mailings an Kunden und Autoren versendet«, berichtet Vertriebsleiterin Daniela Postleb. »Darüber hinaus planen wir weitere Aktionen – insbesondere um die Zielgruppen, die von den aktuellen Lockdown-Maßnahmen am meisten und voraussichtlich auch am längsten betroffen sein werden, zu erreichen.«

Dies betrifft, so Postleb, vor allem den Bereich Demenzratgeber, aber auch Vorlesebücher und Gedächtnisspiele. Digital unterstützen etwa E-Learning-Kurse und digitale Lernkarten die Studierenden bei der Prüfungsvorbereitung – und ermöglichen andere Lehrformen als die klassische Präsenzveranstaltung.

Über seine Website hat Springer Nature den Zugang zu rund 12 000 englischsprachigen Forschungsbeiträgen zum Thema Covid-19 freigeschaltet und stellt diese Inhalte auch der WHO und einer Initiative des Büros für Wissenschaft und Technologie der Vereinigten Staaten zur Verfügung. Da die derzeitige Corona-Pandemie auch den wissenschaftlichen Lehrbetrieb nachhaltig einschränkt, hat Springer Nature außerdem mehr als 500 englisch- und deutschsprachige Lehrbücher verschiedenster Fachdisziplinen frei zugänglich gemacht. Über die Plattform Springer Link wurde für Ärzte und Pflegepersonal in den Krankenhäusern zudem ein Buchpaket aus den Gebieten Intensivmedizin und Pneumologie freigeschaltet.

»Angesichts der zunehmend globalen Auswirkungen der Corona-Krise ist der schnelle Fernzugriff auf Bildungs­ressourcen unerlässlich geworden«, sagt Niels Peter Thomas, Managing Director Books bei Springer Nature – nicht ohne sich für die Zustimmung der Autorinnen und Autoren zu diesem Schritt zu bedanken. Ein kostenfreies Buch im Netz bedeutet zusätzliche Aufmerksamkeit und muss – das zeigen die Erfahrungen in der Open-Access-Publikation – nicht zu geringeren Printverkäufen führen. Seit mehreren Jahren übersteigen die digitalen Umsätze des Konzerns jene im Printbereich. Aus Sicht des Geschäftsführers der weltweiten Buchsparte dürfte Corona diese Entwicklung weiter forcieren: »In so einer Situation«, so Thomas, »sind digitale Geschäftsmodelle weniger risikobehaftet.«

Die Thieme Gruppe bündelt die im Unternehmen verfügbaren relevanten Inhalte zur Pandemie auf www.thieme.de/corona – ein Angebot, das kontinuierlich erweitert wird. Dazu gehören unter anderem ein Symptom-Checker, Onlinekurse für Ärzte und Pflegende sowie neueste Fallbeispiele und Übersichts­arbeiten zu Covid-19 aus Thieme-Fachzeitschriften. Die Thieme-Lernplattform viamedici wurde für die Anforderungen des anstehenden Onlinesemesters optimiert. »Ärzte, Pflegekräfte und viele weitere Akteure im Gesundheitswesen müssen sich schnell auf die aktuelle Situation einstellen. Dafür benötigen sie rasch die für sie relevanten Informationen. Und das funktioniert am besten digital!«, so Udo Schiller, Vice President Products and Solutions bei Thieme.

Bei De Gruyter, wo sehr früh ein Krisenstab gebildet wurde und derzeit rund 90 Prozent der Belegschaft im Home­office tätig sind, wurden rund 75 000 ­E-Books quer durch alle Fachgebiete für institutionelle Kunden temporär freigeschaltet, darunter auch Inhalte der Verlage, die als Distributionspartner vertrieben werden. »Diese Initiative wird sehr rege angenommen«, sagt Geschäftsführer Carsten Buhr, »bisher haben sich über 1 200 Institutionen dafür angemeldet.«
Im Zeitschriftenbereich bietet man Printabonnenten an, die elektronische Ausgabe für einen gewissen Zeitraum kos­tenfrei zu nutzen. Auch bei De Gruy­ter wird der Umsatz durch digitale Geschäftsmodelle – von themenspezifischen E-Book-Paketen bis zu Pick-and-choose-Modellen – immer wichtiger, während der Printbereich seit Beginn der Krise unter Druck ist. Nach Überzeugung von Buhr wird sich der Trend zu digitalen Formaten – abhängig jeweils von Port­folio und Produktart – durch Corona ­weiter verstärken.

Wie der Fachbuchhandel auf die Krise reagiert

»Die Pandemie beschleunigt eine Entwicklung, die in Wirtschaft, Forschung und Lehre bereits seit vielen Jahren reift«, sagt Detlef Büttner, Geschäftsführer von Lehmanns Media. »Dass sich Fachmedien und deren Erschließung digitalisieren, ist weder neu noch eine große Überraschung. Jetzt kommen Inhalte und Systeme tatsächlich flächendeckend zum Einsatz.«

Zwei Drittel seiner Umsätze erzielt Lehmanns im B2B-Geschäft mit Lösungen zu Recherche, Einkauf und Nutzung von Fachmedien weltweit für Großkunden – von wissenschaftlichen Bibliotheken über die öffentliche Hand bis zu Krankenhäusern und Kliniken. Das restliche Drittel wird im klassischen Endkundengeschäft generiert.

Obwohl die Umsatzverluste aufgrund der Filialschließungen im Lockdown nicht vollständig durch die gestiegenen Webshop-Umsätze kompensiert werden konnten, sieht Büttner in Corona-Zeiten nicht düster in die Zukunft: »Wir waren auch schon vorher ein digital denkendes Unternehmen, jetzt kommen unsere Stärken noch besser zum Tragen. Die Systeme, die wir anbieten, erlauben es unseren Kunden, auch vom Homeoffice aus ohne Brüche weiterzuarbeiten.« Gesamtgesellschaftlich, da ist sich Büttner sicher, wird die Corona-­Krise für einen deutlichen Digitalisierungsschub sorgen. Allerdings: »Die notwendige Lernkurve wird man nicht aus dem Stand heraus nachholen.«

Auch die Standorte von Sack Fach­medien waren bis vorletzten Montag ­geschlossen. Obwohl der Webshop weiterarbeitete, wollten manche Kunden in der Lockdown-Phase nicht beliefert werden, auch die Botentouren vor Ort drosselten ihre Frequenz. Dennoch sieht Werbeleiterin Alexandra Klose die Krise für den Fachbuchhändler eher als Chance: »Allein die Sonderaktionen der Verlage um neue Literatur, all die Webinare und Onlinemodule sind toll für uns.« Knüller bei Sack sind etwa das novellierte Infektionsschutzgesetz und Bücher zu den Themen Homeoffice und Arbeiten in der Krise. Die relevante Literatur hierzu ist  auf einer eigens eingerichteten Landingpage (www.sack.de/fachbuecher-coronakrise) versammelt. »Der Beratungsbedarf«, so Klose, »ist riesig.«

Bei Missing Link arbeiten die 44 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Bremer Hauptstandort seit Beginn der Krise in zwei Schichten, überdies sind die drei Etagen in der Westerstraße streng separiert – nur vom Balkon aus kann man sich noch zuwinken. Die Bremer kümmern sich vor allem darum, dass wissenschaftliche Bibliotheken ihren Versorgungsauftrag erfüllen können.

Allerdings sind die Poststellen vieler Einrichtungen erst allmählich wieder besetzt – und vom Homeoffice aus lässt sich neue Literatur schlecht annehmen, einarbeiten und bezahlen. Während der Versand gedruckter Literatur in der Lockdown-Phase so nahezu zum Erliegen kam, wuchs das Geschäft mit Campus-Lizenzen rasant an, wie Geschäftsführerin Branka Felba berichtet: »Die Bibliotheken waren angehalten, so viel Content wie möglich elektronisch zur Verfügung zu stellen. Da die Einarbeitung einzelner E-Book-Titel sehr aufwendig ist, sind wir gemeinsam mit den Fachverlagen dazu übergegangen, größere Pakete zu schnüren. Das ist ein sehr arbeitsintensives Geschäft – immerhin konnten wir unsere Mitarbeiter aus dem quasi stillstehenden Printbereich hier einsetzen und Kurzarbeit vermeiden.«

»Bei uns ist gerade Weihnachten« – so lautet, kurz und knapp, Michael Kozinowskis Kommentar zur Lage. Keine Krise, nirgends. Die Wuppertaler Buchhandlung Klaus v. Mackensen, die auf 180 Quadratmetern neben dem RWS-Sortiment vor allem schöne, ausgefallene und höherpreisige Titel etwa der Büchergilde oder der Wissenschaft­lichen Buchgesellschaft anbietet, packte im Lockdown pro Tag vier bis sechs Stunden Bücherpäckchen. Die Zusammenarbeit mit RWS-Fachverlagen wie Erich Schmidt, Boorberg und Asgard klappte hervorragend.

»Sensationell, wie schnell die Ware da war.« Auch die temporäre Freischaltung von Onlinedatenbanken klappte tadellos. Aufgrund der vielen Ergänzungs­lieferungen der letzten Wochen lief auch das Rechnungsgeschäft erstaunlich ruckelfrei weiter.

Auch Volker Stuhldreher, Geschäftsführer von Kamloth + Schweitzer (Bremen), konnte sich in der Schließphase dank des Engagements der Belegschaft vor Ort als Alternative zu Amazon empfehlen. Allerdings gilt im Verbund von Schweitzer Fachinformationen: »Unsere Antwort ist Online. Das ist das, was wir gut können. Aber das haben wir uns natürlich auch lang erarbeitet.« Als ­Vorstand der Arbeitsgemeinschaft ­wissenschaftlicher Sortiments- und Fachbuchhandlungen (AWS) hat Stuhldreher natürlich auch die Belange der kleineren Geschäfte im Auge zu behalten – und deren Leidensdruck wächst in Corona-Zeiten exponentiell.

Apell des Handels an die Verlage

In der Folge wurde in der vorvergangenen Woche ein von Stuhldreher und seiner Kollegin Bianca Kölbl unterzeichneter offener Brief der AWS an die Verlage verschickt. Moderat im Ton werden die »lieben Kolleginnen und Kollegen« gebeten, die Zusammenarbeit mit dem Sortiment »noch gezielter, vertrauensvoller und intensiver« zu nutzen.

Im Kern geht es um die Aussetzung der für 2020 neu gestalteten (und aus Sicht der kleineren Buchhandlungen schlechteren) Konditionen – und um ein in Corona-Zeiten zu beobachtendes stärkeres Einsteigen vor allem großer Verlage ins Direktgeschäft mit E-Produkten. Während etwa den Bibliotheken schöne Rabatte gewährt werden, befinden sich die Margen der kleinen lokalen Fachinformationsdienstleister weiter im Sinkflug. »Eigentlich«, sagt Volker Stuhldreher, »ist dieser offene Brief ein Appell an die Branchensolidarität. Nur im gemeinsamen Gespräch lassen sich Lösungen entwickeln.«

In den großen Wissenschaftsverlagen fallen die Reaktionen diplomatisch-konziliant aus. »Ich verstehe die Motive, die zu diesem Schreiben geführt haben«, sagt etwa Carsten Buhr, »und ich nehme das auch sehr ernst.« Denn nicht nur die Printtitel, sondern rund 50 Prozent des ­E-Book-Geschäfts wickele De Gruyter über den Buchhandel ab; vor allem über die großen Bibliothekslieferanten. »Wir sind mit dem Handel im Austausch über die Weiterentwicklung elektronischer Geschäftsmodelle. Das war vor Corona so, und das wird auch so bleiben.«
Ähnlich sieht es Niels Peter Thomas von Springer Nature: »Unsere Sales-­Kollegen finden für alle Marktpartner, größere wie kleinere, individuelle Lösungen. Natürlich passen wir in der jetzigen Situation auch Zahlungsziele an und schauen, wo wir kulant und flexibel sein können.«
Und was, bitte, bedeutet die Corona-Krise mittelfristig für die einzelnen Unternehmen, für die Branche insgesamt? Carsten Buhr ist sich beinahe sicher, dass es im Zuge von Corona zu »Strukturverschiebungen« innerhalb der Etats kommen wird. »Diese Krise wird nicht in sechs Wochen verschwunden sein. Sie wird auf unsere Kunden, auf unsere Geschäftsmodelle und die Art und Weise, wie wir uns als Verlag organisieren, nachhaltig Einfluss nehmen.«

Niels Peter Thomas sieht dem, was da kommt, ohne Angst entgegen – das gilt für das Format »Buch« wie für den Konzern. Natürlich werden die nächsten ein, zwei Jahre vermutlich schwierig, sie sind es ja bereits. Dennoch ist Thomas überzeugt, dass die gewachsene Beachtung für Wissenschaft auch die Entwicklung der Wissenschaftsliteratur positiv beeinflussen kann. »Wir können zeigen, dass wir uns eben nicht im Elfenbeinturm bewegen, sondern für die gesamte Gesellschaft hoch relevant sind.«

INFOS UND ANGEBOTE ZU CORONA

De Gruyter: 75 000 E-Books quer durch alle Fachgebiete für institutionelle Kunden temporär freigeschaltet (darunter auch Titel von Distributionspartnern)

Sack Fachmedien: eigene Landingpage für Corona-relevante Literatur(www.sack.de/fachbuecher-coronakrise)

Springer Nature: freier Zugang zu 500 englisch- und deutschsprachigen Lehrbüchern verschiedenster Fach­disziplinen

Thieme: Bündelung der im Unternehmen verfügbaren relevanten Inhalte zur Pandemie auf www.thieme.de/corona

utb: Freischaltung aller Titel der Lehrbuchplattformen utb-studi-e-book und der scholars-e-library zum Festpreis

Weitere interessante Fachbuchthemen finden Sie in unserem Börsenblatt-Spezial "Fachbuch" vom 30.April.