Interview mit Vittorio E. Klostermann und Anastasia Urban

Passion für Denker

28. April 2020
von Börsenblatt
Klostermann ist eine exquisite Adresse für Philosophie und ihre Nachbargebiete. Verlagsleiterin Anastasia Urban und Verleger Vittorio E. Klostermann über neue Autoren, Bücher und Editionen.      

Hat die Corona-Krise Ihre Programmpläne für das zweite Halbjahr durcheinandergewirbelt?
Urban: Nein, die Corona-Krise hat unsere Programmplanungen nicht gestört, wir arbeiten noch nahezu unverändert weiter. Wir sind nicht so viele Mitarbeiter, und die Räume sind groß genug, sodass wir die Vorsichtsmaßnahmen einhalten können. Im Unterschied zu den belletristischen Verlagen spielen für uns Frühjahr und Herbst nicht die übergeordnete Rolle; bei uns erscheinen die Bücher, wenn sie fertig sind. Wir können also an unseren Plänen festhalten und schmieden ununterbrochen neue.
Klostermann: Die allgemeinen Verlagskosten laufen im Übrigen weiter; da schiene es uns widersinnig, mit leeren Händen in den ungewissen Herbst zu gehen.

Seit dem vergangenen Jahr führen Sie die »Wiener Ausgabe« der Werke Ludwig Wittgensteins fort. Damit haben Sie jetzt neben Heidegger eine weitere epochale Gestalt der Philosophie des 20. Jahrhunderts im Programm. Welche Hoffnungen verbinden Sie damit?
Klostermann: Wittgensteins »Tractatus« war eines der Bücher, die mich in meiner Jugendzeit für die Philosophie begeistert haben. Und die ersten Bücher, die ich – noch zu Lebzeiten meines Vaters – in den Verlag brachte, stammten von Autoren aus seiner Denktradi­tion. Als Michael Nedo uns fragte, ob wir nicht die seit vielen Jahren unterbrochene »Wiener Ausgabe« Wittgensteins fortführen wollten, schloss sich für mich ein Kreis. Mit großer Leidenschaft haben wir uns da hineingestürzt und finden es eine wunderbare Abrundung unseres philosophischen Programms.
Urban: Ich finde, dass es eine mutige Entscheidung von Vittorio Klostermann war, und wir wünschen uns natürlich, dass dieser Mut auch belohnt wird.

Die Heidegger-Gesamtausgabe nähert sich ihrer Vollendung. Welche Bände fehlen noch?
Urban: Es fehlen noch sechs Bände und zwei Teilbände. Zudem wird der vergrif­fene Band 38 (»Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache«) als Band 38 A neu ediert – erstmals auf der Grundlage des Originalmanuskripts. Ob es noch Supplementbände aus dem Nachlass geben wird, steht noch nicht fest.

Wartet noch ein Werk auf die Veröffentlichung, das vielleicht ein anderes Licht auf Heidegger werfen könnte?
Urban: Das von Peter Trawny übersetzte Buch von Michael Chighel‚ »Kabale. Das Geheimnis des hebräischen Humanismus im Lichte von Heideggers Denken«, wird ein neues Licht auf Heidegger werfen und auch die Debatte um die »Schwarzen Hefte« um eine neue Stimme bereichern. Es äußert sich hier zum ersten Mal eine jüdische Stimme, die aus dem großen religiösen Geist des Judentums heraus spricht. Michael Chighel ist ein in Jerusalem lebender Chasside, der hier seine Interpretation vorlegt.

Ist die Debatte um die »Schwarzen Hefte« beendet? Gibt es so etwas wie eine Versöhnung mit Werk und Autor – oder ist Heidegger ein für allemal wegen seiner antisemitischen Notizen diskreditiert?
Klostermann: Die Aufregung um die »Schwarzen Hefte« hat sich gelegt. Leider hat die Diskussion der vergangenen Jahre die Gräben zwischen den Liebhabern und den Verächtern des Werks Heideggers eher vertieft. Wir finden das ärgerlich, denn das erschwert die produktive Auseinandersetzung mit dem so vielfältigen und unerschöpflichen Werk des Philosophen.
Urban: Das große internationale Interesse spricht für sich. Die Nach­frage nach Übersetzungslizenzen ist in den vergangenen Jahren sogar gestiegen; in China etwa erscheint eine umfangreiche Ausgabe mit den gesammelten Werken, und im englischen Sprachraum sind die Rechte für die meisten Bände der Gesamtausgabe vergeben.

Hat sich durch den Tod Hermann Heideggers irgendetwas im Herausgabeprozess geändert?
Urban: Nein, seit dem Tod Hermann Heideggers im Januar dieses Jahres hat sich am Herausgabeprozess nichts geändert. Er hatte das operative Geschäft schon im Jahr 2009 an seinen jüngsten Sohn, den Rechtsanwalt Arnulf Heidegger, übergeben, der die Arbeit ganz im Sinne seines Vaters weiterführt. Traurig ist, dass Hermann Heidegger den Abschluss der Gesamtausgabe nicht mehr erleben kann – das hatte er sich immer gewünscht.

Auch die Gegenwartsphilosophie mit ihren vielen Facetten hat Platz im Verlagsprogramm. Welche Titel sind Ihnen besonders wichtig?
Urban: Wir haben uns sehr über das Lob zu Emanuel Seitz’ Buch »List und Form. Über Klugheit« gefreut. Wolfgang Hellmich schrieb in der »NZZ«: »Ein Buch, wie Emanuel Seitz es geschrieben hat, ist in der Philosophie eine Seltenheit geworden. ›List und Form‹ ist wie ein Wurf aus dem Nichts, ungewöhnlich in seinem Inhalt wie in seiner Form. Man hat lange nicht mehr ein so kluges Buch gelesen.« Auch Daniel-Pascal Zorns Buch über die Shootingstars der Populärphilosophie hat die öffentliche philosophische Diskussion erreicht. Im Übrigen sind wir stolz, inzwischen auch Peter Sloterdijk, Slavoj Žižek und Hans Ulrich Gumbrecht zu unseren Autoren zählen zu dürfen.

Klostermann ist ein Verlag, der auf vielen Gebieten zu Hause ist, auch auf dem des Rechts. Wie hat sich das juristische Segment entwickelt?
Klostermann: Den Grundstein zum rechtshistorisch-rechtsphilosophischen Programm des Verlags hat mein Vater 1939 mit der Publikation von Helmut Coings Habilitationsschrift (zum Römischen Recht) gelegt. Als Coing Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte wurde, wurden wir auch mit den Publikationen des Instituts betraut; dessen »Studien« sind sicher eine der angesehensten Reihen des Fachs weltweit. Auch das Erstlingswerk des Verfassungsrechtlers Hans-Peter Schneider betreute mein Vater, und so kam es zur Publikation von dessen monumentaler Dokumentation zur Entstehung des Grundgesetzes. Wegen dieser Schwergewichte lag es nur nahe, dass auch Werner Gephart uns die Publikationen seines Käte Hamburger Kollegs »Recht als Kultur« anvertraute.

Dann gibt es noch einige besondere Nischen im Verlagsprogramm, etwa die Schreibschulen für Japanisch und Chinesisch. Sind Sie damit erfolgreich?
Klostermann: Die Bücher zu den Kanji und Hanzi (die japanischen und chinesischen Schriftzeichen) kamen auf ganz ungewöhnliche Weise in den Verlag: James Heisig, ein amerikanischer Philosophieprofessor, der in Japan lehrte, hat sich zum Lernen und Behalten der schönen Schriftzeichen eine Mnemotechnik zurechtgelegt, ursprünglich nur für den eigenen Gebrauch. Ausländische Leidensgenossen in Japan, denen er sein Manuskript auslieh, waren davon so begeistert, dass sie ihn überredeten, seine Notizen zu veröffentlichen. Die Bücher wurden in englischer Sprache sofort ein Riesenerfolg, und als Raimund Herder, der spanische Verleger, uns vom Erfolg der bei ihm erscheinenden Übersetzungen berichtete, haben wir uns sofort an den Autor gewandt, den sympathischen Mann kennengelernt und sind seither ganz einfach glücklich über die schönen Verkaufszahlen.

Hat sich der Kontakt zu den Kunden – Bibliotheken, Institute, (Fach-)Buchhändler – in den vergangenen Jahren verändert, und wenn, wie?
Urban: Die Kommunikation mit den Buchhandlungen beschränkt sich mittlerweile fast ausschließlich auf den Austausch von E-Mails. Das ist manchmal schade, weil sich im direkten Gespräch einiges leichter klären ließe. Wir möchten die Buchhandlungen ermutigen, Lieferbarkeitsanfragen von scheinbar vergriffenen Titeln telefonisch zu stellen: Oft sind die Titel doch noch lieferbar und können umgehend auf den Weg gebracht werden.

Ist die Größe des Unternehmens für Sie ein Kriterium – oder haben Sie immer bewusst darauf geachtet, dass Qualität niemals irgendwelchen Wachstums­zielen untergeordnet werden darf?
Klostermann: Als ich 1970 in den Verlag meines Vaters eintrat, gab es zehn Mitarbeiter und etwa 50 Neuerscheinungen im Jahr. Weder an der einen noch an der anderen Zahl hat sich seither – von kleineren Schwankungen abgesehen – etwas geändert. Ich finde das eine angenehme Größe: Jeder der zehn Mitarbeiter ist König in seinem eigenen Aufgabenbereich, fühlt sich verantwortlich, und so arbeiten wir – glaube ich – sehr effizient. Ich bin jetzt im 50. Jahr Verleger, und all die Jahre hatte ich nie die Vorstellung, dass Wachstum unseren Verlag und unsere Arbeit in irgendeiner Weise verbessern könnte.

Welche größeren Projekte planen Sie für die nächste Zeit?
Klostermann: Im vorigen Jahr haben wir ja die Wittgenstein-Ausgabe übernommen, in diesem Jahr die Nexus-Reihe vom Stroemfeld Verlag. Beides sind große Unternehmungen, die viel Aufmerksamkeit beanspruchen. Wir sind neugierig, was die Zukunft uns bringen wird.
Urban: Wir überlegen, wie wir das kulturwissenschaftliche Segment damit für uns ausbauen können. Mit der Übernahme der »Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis« haben wir im Jahr 2017 auch schon ein für uns neues Feld betreten.