Nominiert beim Deutschen Verlagspreis (1/7)

Arco Verlag: Grenzenlos übernational

19. Mai 2020
von Nils Kahlefendt

Der Arco Verlag aus Wuppertal wird mit dem Deutschen Verlagspreis 2020 ausgezeichnet. Ob es für einen der drei Plätze als "herausragender Verlag" reicht, wird am 25. Mai verkündet. Das Programm ist eine Entdeckungsreise durch die Kultur Mitteleuropas – und zu verschollener, verdrängter Literatur. Dafür hat es zuletzt schon eine Auszeichnung mit dem Kurt-Wolff-Preis gegeben. 

Mit einem Manuskript von Fritz Beer in der Tasche reiste Christoph Haacker 2002 im Vorortzug aus Wimbledon der Verlagsgründung entgegen. Beer, gebürtiger Brünner Jude, der nach dem Hitler-Stalin-Pakt mit dem Kommunismus brach, als Soldat gegen Nazideutschland kämpfte, im Holocaust fast seine ganze Familie verlor, ist stolze 92 Jahre alt, als sein Buch »Kaddisch für meinen Vater« im jungen Arco Verlag erscheint. Für Haacker ist es noch immer ein »Lieblingsbuch«.

Das »Lesersein« war für Haacker, der in Wuppertal aufwuchs und in Bochum Germanistik und Slawistik studierte, »Voraussetzung fürs Verlegerwerden«: Viele Titel, die er sich als Literaturwissenschaftler gewünscht hätte, waren nicht mehr verfügbar. Bücher wie Beers Erzählband »Das Haus an der Brücke«, 1949 im Nürnberger Nest-Verlag von Karl Anders erschienen – und von Arco zu Beers 100. Geburtstag neu aufgelegt.

Zahllose (Wieder-)Entdeckungen verschollener und verdrängter Literatur sind dem Verlag zu verdanken. Mit dem sorgfältig edierten Werk der auf Jiddisch schreibenden, 1942 im Lemberger Ghetto ermordeten Avantgarde-Dichterin Debora Vogel (»Geometrie des Verzichts«) räumte Haacker 2016 den Preis der Hotlist ab.

Der Verlagsname geht zurück auf das legendäre Café Arco, 1905 in der Nähe des Prager Masaryk-Bahnhofs gegründet, in dem es »kafkate, brodelte, werfelte und kischte«. Für Haacker Verkörperung jenes »übernationalen Gedankens, den wir mit unserem Programm pflegen«.

Kraftvolle Nebentriebe 

Exemplarisch dafür steht die »Bibliothek der böhmischen Länder«; ein historischer Name, der Böhmen, Mähren und den Südzipfel Schlesiens bezeichnet. »Da wird etwas als Kulturraum beschrieben, es gibt ein Mit- und Nebeneinander von Kulturen.« Für Haacker ein trefflicher Ansatz, Literatur und literarische Landschaften abzubilden. Über die Jahre hat die Reihe kraftvolle Nebentriebe ent­wickelt:

  • Arco Wissenschaft,
  • die Reihe Orca mit klassischer Jugendliteratur,
  • Coll’Arco, wo Avantgarde vor allem aus dem romanischen Sprachraum im feinen Sakkotaschen-Format erscheint.

Gegründet wurde Arco von Christoph Haacker, seinem Bruder Markus und zwei Schulfreunden. Zur »Arco-Familie« gehören jedoch auch all jene, die zum Gelingen der Bücher beitragen – von den Übersetzerinnen und Übersetzern bis zur Wuppertaler Praxis für visuelle Kommunikation, die ein zeitlos-elegantes Corporate Design und das Verlagssignet nach Ernst Barlachs »Buchleser« schuf. Seit 2009 betreibt Haacker einen Außenposten in Wien; dass Wuppertal auch in Zeiten des Berlin-Hypes der Stammsitz des europäisch ausgreifenden Verlags bleibt, ist kein Zufall. Provinz? Von wegen! Schon 1913 schrieb Paul Zech seine »Sonette aus dem Exil«, von der Wupper hatte es ihn an die Spree verschlagen – logisch, dass auch diese »Bergischen Dichtungen« bei Arco herausgekommen sind.

2020 ist, mit Büchern von Ludvik Kundera und Marga Minco, bei Arco das Jahr der 100. Geburtstage. Die Niederländerin Minco erlebt ihn, weil ihr in Amsterdam im buchstäblich letzten ­Moment die Flucht vor der Gestapo glückte, während ihre Eltern und Geschwister von den Deutschen umgebracht wurden. Nun erscheinen mit »Das bittere Kraut« (1957), »Ein leeres Haus« (1966) und »Nachgelassene Tage« (1996) gleich drei ihrer Bücher, die die deutsche Besatzungszeit, Verfolgung, Widerstand und die Erfahrungen der Nachkriegszeit thematisieren. »Ich glaube«, sagt Chris­toph Haacker, »an die Kraft dieser Literatur.«

Dieser Artikel ist zuerst erschienen in der Börsenblatt-Ausgabe 9/2020.