Nominiert beim Deutschen Verlagspreis (3/7)

Meiner Verlag: Die Herzkammer des Denkens

20. Mai 2020
von Börsenblatt
Ein editorisches Jahrhundertprojekt in Zeiten der Häppchenkultur: die Philosophische Bibliothek  von Felix Meiner wurde vor zwei Jahren 150. Für die Arbeit des Verlags winkt der Deutsche Verlagspreis 2020.

In Zeiten, in denen Bücher meist nur ein kurzes Dasein im Buchhandel fristen, sind Publikationsreihen mit 150-jähriger Lebensdauer selten geworden. Der Philosophischen Bibliothek des Felix Meiner Verlags (kurz: PhB) gelingt das Kunststück in diesem Jahr. Ein ähnliches Unternehmen, wenn auch mit einer breiteren und populäreren Ausrichtung, ist Reclams Universalbibliothek (RUB), die ebenfalls seit anderthalb Jahrhunderten auf dem Markt ist und 2017 runden Geburtstag feierte.

Für Verleger Manfred Meiner ist seine Philosophische Bibliothek aber nicht nur aufgrund der langen Geschichte eine Rarität: Kein anderer Verlag leiste sich eine Reihe wie diese, die den Grundbestand des philosophischen Denkens von der Antike bis in die jüngere Vergangenheit sichere, durch immer wieder über­arbeitete und auch neu übersetzte Ausgaben, wie Aristoteles’ Werk »De anima«, das Klaus Corcilius, Lehrstuhlinhaber für antike Philosophie an der Universität ­Tübingen, neu übertragen hat.

Unbegrenzt erweitert werden kann die Philosophische Bibliothek allerdings nicht, da der Vorrat nicht edierter philosophischer Werke begrenzt ist. Und kanonische Werke wachsen nicht in der Geschwindigkeit nach, wie man sie für die Wachstumsdynamik in einem Verlag bräuchte. »Wir könnten natürlich philosophische Werke aus dem asiatischen Raum herausgeben, die Nachfrage hierzulande wäre aber vermutlich zu gering«, sagt Manfred Meiner – auch wenn er die Publikationsentscheidungen für die Philosophische Bibliothek noch nie unter dem Gesichtspunkt möglicher Einnahmen getroffen habe.

Werke aus 2 400 Jahren 

Stellt man Manfred Meiner ein gewisses Maß an Understatement in Rechnung, dann ist die Edition über die Jahrzehnte dennoch ­gewachsen und von anhaltendem Erfolg gekrönt gewesen. Immerhin umfasst die Bibliothek mehr als 500 Titel von etwa 160 Autoren aus den letzten 2 400 Jahren, wie es stolz auf der Website heißt. Außerdem lassen sich immer wieder Entdeckungen machen, wie etwa die Werke des mittelalterlichen Philosophen Roger Bacon, die erstmals ins Deutsche übertragen wurden.

Vor 50 Jahren, als die PhB 100-jähriges Bestehen feierte, war das noch ein gesellschaftliches Ereignis. Heute scheint sich nur eine kleine Schicht der Bildungselite für das Jubiläum zu interessieren – obwohl Philosophie doch inzwischen zu einer Art Volkslaufbewegung geworden ist. Das ist aber nur scheinbar ein Widerspruch. Denn was heute in den Medien und bei Festivals interessiert, ist nicht das Studium der Quellen, sondern eine popularisierte Form des Nachdenkens über die Menschheit und die Welt, die auf narrative Formate, Talkshows und Events setzt. Da sind Kompilatoren, Vermittler und medial gewandte Schriftsteller gefragt, die bewusst keinen akademischen Gestus an den Tag legen – was durchaus verdienstvoll ist, weil es philosophische Neugier beim breiten Publikum befriedigt.

Die gründlich edierten und kommentierten Ausgaben der Philosophischen Bibliothek bedienen dagegen ein akademisches Publikum, das forschen, lehren und studieren will – Letzteres allerdings unter Vorbehalt. Denn obwohl die Zahl der Philosophiestudenten in den vergangenen Jahrzehnten einigermaßen stabil geblieben ist, hat sich das Studium selbst in den vergangenen 15 Jahren radikal verändert. In den bachelorisierten Studiengängen von heute sei die intensive Lektüre philosophischer Werke wie Hegels »Phänomenologie des Geistes« eine Ausnahme, so Meiner. Das »Sich-Hineinknien« früherer Studentengenerationen gehöre der Vergangenheit an. Meist werden nur noch Quellenauszüge herangezogen, die komplette Werkausgabe wird häufig gar nicht mehr konsultiert.

Immerhin: Grundlegende Werke wie die von Aristoteles, Plato, Kant oder Schelling werden über die Jahrzehnte hinweg kontinuierlich verkauft – in zwei- bis dreistelligen Stückzahlen. »Schwieriger sieht es bei neuen Ausgaben aus, da sind die Auflagen drastisch zurückgegangen«, berichtet Meiner.

Doch auch wenn sich hier und da ein wenig Melancholie in die Jubiläumsstimmung mischt – die Philosophische Biblio­thek ist nichts weniger als ein editorisches Monument der Geistesgeschichte, weil sie den Kanon der (überwiegend) abendländischen Philosophie in mustergültigen, hochkarätigen Referenzausgaben abbildet. Sie trägt damit zur Sicherung eines Grundbestands geis­tigen und kulturellen Wissens bei.

Es liegt in der Natur der Disziplin, dass sie langsam und langwierig ist. Das, was Denker wie Spinoza, Kant oder Hegel zu Systemgebäuden geformt haben, hat sich über Jahrzehnte ent­wickelt. Das Verständnis ihrer Werke – auch im editorischen Prozess – ist eine Arbeit, die sich nicht in saisonale Zyklen oder kurze Förderhorizonte pressen lässt, sondern gefühlt Äonen benötigt. Ein Beispiel für diese Art des Publizierens, die notwendig auf das physische Buch angewiesen ist, ist die im Jubiläumsjahr erschienene, kritische Ausgabe des fragmentarisch gebliebenen Werks Johann Christoph Hamanns, »Fliegender Brief«. Ein Werk, das bis heute zu den opaken, teilweise kryptischen Werken der Philosophiegeschichte zählt. »Ihm hängt bis heute das Stigma der Unverständlichkeit an, und obwohl der ›Fliegende Brief‹ nicht als kanonisch aufzufassen ist, gehört er doch unbedingt in die Philosophische Bibliothek« – davon ist Cheflektor Marcel Simon-Gadhof überzeugt.

Um die Dechiffrierung des »Briefs« hat sich Janina Reibold, eine junge akademische Mitarbeiterin am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg, verdient gemacht. Die Auflage ist mit 500 Exemplaren realistisch angesetzt.

Investitionen ins Digitale 

Trotz schrumpfender Auflagen ist der Felix Meiner Verlag aber kein Unternehmen, das dem Schwinden des gedruckten Buchs tatenlos zuschaut. »Wir haben massiv in die Digitalisierung unseres Programms investiert, auch wenn wir nicht zu den ersten gehört haben«, sagt Meiner. »Aber wie heißt es doch: Die zweite Maus frisst den Speck.«  Ökonomisch mache sich dies zwar nicht bezahlt, doch Geld verloren habe man damit auch nicht. Vor Kurzem hat der Verlag die gesamte Philosophische Bibliothek an eine Universitätsbibliothek lizenziert. Das könnte sich in
nächster Zeit wiederholen, weil die Bibliotheken ihre Etats auf digitale Erwerbungen umstellen.
Den besonderen Geburtstag feiert der Verlag auch mit einem Dutzend Jubiläumsausgaben – darunter Grundwerke der abendländischen Philosophie wie Platons »Gastmahl«, René Descartes’ »Passionen der Seele« und Immanuel Kants »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« sowie zwei Nachschlagewerke (etwa der Klassiker »Wörterbuch der philosophischen Begriffe«). Jedes Buch kostet kartoniert oder gebunden nur 15 Euro.

Nicht vergessen werden sollte im Jubeljahr auch die übrige Verlagsproduktion, aus der die Blaue Reihe mit ihren ungewöhnlichen und manchmal provozierenden Standpunkten herausragt. Bücher wie Gregory Fullers »Das Ende. Über die heitere Hoffnungslosigkeit im Angesicht der ökologischen Katastrophe« (bereits in 2. Auflage) oder Wolfgang Detels »Warum wir nichts über Gott wissen können« richten sich an ein nicht ausschließlich akademisches Publikum und sind dank ihrer wissenschaftlichen Autoren inhaltlich auf der Höhe der philosophischen Diskussion.

Zu wünschen wäre es, dass die Philosophische Bibliothek nicht nur in einigen ausgewählten Buchhandlungen vorrätig ist – wie zum Beispiel bei Klaus Bittner in Köln –, sondern auch in vielen anderen Sortimenten ausliegt. Denn wer ihre Bücher in die Hand nimmt, sich in sie vertieft (und sie erwirbt), begibt sich in die Herzkammer des philosophischen Denkens.

Dieser Artikel ist zuerst in der Börsenblatt-Ausgabe 18/2018 erschienen.