Reportage von der Buchmesse in Istanbul

Ort des Protests

18. November 2016
von Holger Heimann
Verlage und Autoren in der Türkei geraten zunehmend in Bedrängnis. Einer der wenigen Freiräume für kritische Diskussionen ist die Buchmesse in Istanbul. Mit dem Gemeinschaftsstand und Aktionen in der Stadt setzt die deutsche Buchbranche ein starkes Zeichen der Solidarität. Eine Reportage aus Istanbul.

Auf dem Weg vom Istanbuler Zentrum zur Buchmesse am Rand der Stadt kommt man am Frauengefängnis Bakirköy vorbei. Die Schriftstellerin Aslı Erdoğan ist hier inhaftiert. Unbeeindruckt von internationalen Protesten hat die Staatsanwaltschaft eine lebenslange Haftstrafe für eine Autorin gefordert, deren Verbrechen darin besteht, in einer ­kurdisch-türkischen Zeitung publiziert zu haben. Die Türkei wird jeden Tag mehr zu einem unberechenbaren, autoritären Staat. Aber es gibt trotzdem nach wie vor die Mutigen, die sich nicht unterkriegen lassen. Auf der Buchmesse hat "Cum­huriyet", die wichtigste oppositionelle Zeitung des Landes, einen Stand. Die Bücher des mittlerweile im deutschen Exil ­lebenden früheren Chefredakteurs des Blatts, Can Dündar, ­liegen zahlreich unweit davon beim Verlag Can aus – darunter auch seine Aufzeichnungen aus dem Gefängnis.

Der Verlagsleiter Can Öz, der mit Hass-E-Mails und Morddrohungen leben muss, macht trotzdem alles andere als den Eindruck eines eingeschüchterten Menschen: "Als Verleger in der Türkei muss man bereit sein zu kämpfen. Für mich sind all die schockierenden Dinge, die gerade geschehen, Teil des Alltags", sagt er. "So ist es leider schon immer gewesen in der Türkei. Selbst, wenn sich die Dinge zum Besseren entwickeln, wie es Anfang der Nullerjahre geschehen ist, wissen wir in diesem Land immer: Es kann auch wieder schlechter werden. Und wenn es schlechter wird, wissen wir, dass auch wieder bessere Zeiten kommen. Das ist das typische Auf und Ab für jeden türkischen Intellektuellen."

Der unberechenbare Erdoğan 

Das klingt nach Fatalismus, tatsächlich aber reflektiert Can lediglich die Erfahrung der Unsicherheit, die jedem Türken historisch mitgegeben zu sein scheint. Die Buchmesse selbst, die noch bis Sonntag zum 35. Mal stattfindet, ist das Produkt wiedergewonnener Freiheit nach der bleiernen Zeit der Militärdiktatur infolge des Putschs von 1980. Viele Türken empfinden die Situation heute jedoch als noch schlimmer; Erdoğan sei unberechenbarer als die Militärs es waren. Wie zum Beweis dafür ist vor einigen ­Tagen auch der Literaturkritiker der "Cumhuriyet" verhaftet worden. Can sagt: "Meine Haltung hat sich nicht verändert, die Türkei hingegen ist ein anderes, schreckliches Land geworden. Es geht immer weiter abwärts, mit großer Geschwindigkeit. Wir müssen abwarten, was weiter geschieht. Es wird nichts Gutes sein, natürlich nicht."

Die Istanbuler Buchmesse ist die wichtigste des Landes. 500.000 Besucher kamen im Vorjahr innerhalb einer Woche. Und auch diesmal sind die Gänge zwischen den Bücherständen voller Menschen. Vielleicht auch deshalb, weil sie hier noch Freiräume finden, die anderswo nicht mehr existieren. Die wichtigen Verlage jedenfalls zeigen ihre literarisch beein­druckend reichen Programme. Dass im Jubiläumsjahr jedoch nicht nur eine gewöhnliche Messe stattfindet, wird rasch deutlich. Während der offiziellen Eröffnung am vergangenen Samstag spricht der stellvertretende türkische Kulturminister kurz von schwierigen Zeiten, aber er bezieht sich dabei ausschließlich auf den Terror der PKK. Die deutsche Staatsministerin Maria Böhmer äußert zurückhaltend ihre Sorge über die ­Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei. Weitaus vehementer ist der Auftritt türkischer ­Gewerkschafter und Schriftsteller. Von Applaus begleitet, laufen sie mit Plakaten durch die Hallen, um auf die Lage Aslı Erdoğans und anderer Inhaftierter aufmerksam zu machen. Einer der Aktivisten ist der Autor und Menschenrechtler ­Burhan Sönmez.

"Wir tun so vieles, seit unsere Freunde vor drei Monaten eingesperrt wurden – nicht nur hier, sondern auf den Straßen, vor Medienhäusern, Gefängnissen. Aber die Buchmesse ist vielleicht der beste Ort für unseren Protest", sagt Sönmez. Der Mann, der selbst in Haft war, danach lange in England gelebt hat und heute für Zeitungen wie den "Guardian" und die "Süddeutsche" mutig über die Zustände in der Türkei schreibt, ­erklärt, warum die Buchmesse ein besonderer Ort ist: "Hier sprechen wir nicht zur Regierung, sondern direkt zu den ­Lesern der Bücher. Wir sagen, hey, ihr lest die Bücher, aber die Regierung sperrt die Schriftsteller ein, die diese Bücher geschrieben haben."

Deutscher Gemeinschaftsstand: "Schriftstellern und Verlegern den Rücken stärken"

Das Gespräch mit den türkischen Lesern suchen in diesem Jahr vor allem deutsche Autoren und Verleger. Unter dem Motto "Worte bewegen" präsentiert sich Deutschland als Ehrengast; 30 Verlage stellen ihre Programme vor, 15 Schriftsteller sind nach Istanbul aufgebrochen. Aber was können Worte noch bewirken in einer Zeit, da die türkische Regierung weiterhin unbeirrt gewaltsam gegen ihre Kritiker vorgeht? Buchmesse-Direktor Juergen Boos sagt: "Gerade viele Schriftsteller und Verleger gehören nicht zu Erdoğans Unterstützern, genau sie treffen wir hier, um ihnen den Rücken zu stärken."

Der Schriftsteller Moritz Rinke, der mit einer Türkin ver­heiratet ist, ist aus Antalya angereist. Auch er verteidigt die Entscheidung der Deutschen, nach Istanbul zu kommen: "Gerade in dieser Situation ist es sehr wichtig, sich in der Türkei zu zeigen. Das tue ich nicht, um das Land politisch zu stützen. Man könnte dem Gastland vorwerfen, dass es sich in ein ­zunehmend autoritäres System einbettet und ihm damit hilft. Ich glaube aber, die Akzentuierung liegt anders. Es geht darum, höflichen Widerstand zu zeigen, der türkischen Repres­sion zu widersprechen und den Menschen beizustehen, die sich von Europa im Stich gelassen fühlen."

Das ist gelungen. Die regierungskritischen Verleger und Autoren erleben die deutsche Präsentation durchweg als wichtige Unterstützung. "Dass die deutschen Verlage und Autoren gekommen sind, ist wichtig für uns. Es ist ein starkes Zeichen für die Meinungsfreiheit", sagt Olcay Geridönmez vom Verlag ­Evrensel Publishing. Der linksgerichtete Verlag ist eines der jüngsten Angriffsziele der Regierung Erdoğan. Kurz vor Beginn der Messe wurden drei Zeitschriften, die Evrensel herausbringt, verboten, darunter eines der namhaften Kulturjournale des Landes. Aber auch die Lektorin denkt nicht daran, klein beizugeben: "Wir sind in der Türkei mit dieser Angst aufgewachsen. Man wird mehr und mehr immun dagegen. Es gibt immer eine Möglichkeit, kritische Texte zu publizieren: wenn nicht Bücher, dann Zeitschriften, wenn nicht Zeitschriften, dann Broschüren." Im Verlag sind sie angesichts der Bedrohung enger zusammengerückt. "Wir arbeiten mehr, helfen uns gegenseitig", sagt Geridönmez.

Die aktuelle politische Situation in der Türkei ist direkt oder indirekt bei beinahe jeder Diskussion am deutschen Gemeinschaftsstand und auf anderen Podien auf der Messe und in der Istanbuler Innenstadt präsent. In einer deutsch-türkischen Diskussionsrunde unter der Überschrift "Für das Wort und die Freiheit" berichtet Sönmez davon, dass parallel zum Auftakt der Messe 370 Vereinigungen in der Türkei ihre Arbeit einstellen mussten, darunter zum Beispiel eine Organisation zum Schutz von Kindern.

Kein freies Land 

Es ist eine Zahl, die man zu anderen ­hinzuaddieren muss: 150 Medienhäuser wurden geschlossen, 37.000 Menschen sind inhaftiert, darunter 150 Journalisten und Autoren. Börsenvereins-Hauptgeschäftsführer Alexander Skipis befindet auch angesichts solcher Fakten: "Die Türkei ist derzeit kein freies Land mehr. Wenn Deutschland weiter nur ­zuschaut, wie Menschen drangsaliert und eingesperrt werden, dann bedeutet das auch, Unrechtsverhältnisse zu stabilisieren." Für Rowohlt-Geschäftsführer Peter Kraus vom Cleff heißt Verleger zu sein, eine Haltung einzunehmen. "Eine Gesellschaft, die sich dem Dialog verweigert, wird nicht gedeihen", sagt er. Auch der Schriftsteller Ilija Trojanow (seinen Roman "Macht und Widerstand" gibt es in türkischer Übersetzung beim Can Verlag) redet Klartext und betont, wie wichtig der freie Austausch von Meinungen ist: "Ich möchte auch meine Feinde lesen können."

Am deutlichsten aber machen die Deutschen ihre Solidarität mit der liberalen Opposition im Land außerhalb der Messe. Eine Gruppe um Alexander Skipis, den Verleger Christoph Links und den Schriftsteller Ilija Trojanow demonstrierte vor dem Istanbuler Frauengefängnis zusammen mit türkischen Aktivisten am Montag für die Freilassung Aslı Erdoğans und anderer inhaftierter Autoren. "Free the words – Free Aslı Erdoğan" steht auf dem Transparent, das die Deutschen hochhalten. Christoph Links spricht davon, wie deutsche Hilfe seitens der Buchbranche konkret werden kann: "Wir wollen kritische Bücher aus der Türkei nach Deutschland bringen." Für Alexander Skipis ist angesichts der politischen Situation in der Türkei zweierlei wichtig: Einerseits müsse deutlich gemacht werden, dass Meinungsfreiheit ein essenzieller Bestandteil ­einer freien Gesellschaft ist. In der Türkei könne man von solcher Freiheit nicht mehr sprechen. Außerdem gehe es darum, auf Einzelschicksale hinzuweisen und solidarisch zu sein mit inhaftierten Schriftstellern, Journalisten und Verlegern.

Das ist auch die Überzeugung türkischer Autoren und Verleger wie Burhan Sönmez und Can Öz. Die Regierung Erdoğan repräsentiert nicht die ganze Türkei, sagen sie. Und: Es gibt viele Menschen wie uns. Der Mut derjenigen, die fest entschlossen sind, in der Türkei zu bleiben, um den Herrschenden zu widersprechen, ist beeindruckend. Andere haben sich dafür entschieden, ihrem Land den Rücken zu kehren, oder sitzen auf gepackten Koffern. Erdoğans Willkür wollen sie sich nicht ausliefern.

Im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu, in einer der Nebenstraßen der berühmten Flaniermeile Istiklal findet man die kleine, schmucke Buchhandlung Scala. Die Regale sind bis unter die Decke voll mit spannenden Büchern: Literatur, Philosophie, Geschichte – berühmte Namen überall. Das Schaufenster aber wird von einer Autorin dominiert: Nebeneinander aufgereiht stehen dort die Bücher von Aslı Erdoğan.

Hörtipp

Auf BR Bayern 2 berichtet Alexander Skipis über die Buchmesse Istanbul. Ein Podcast (6:10 Min.) findet sich auf der Website des Senders.