Interview mit Gerhard Lauer

"Starke Leser unterscheiden sich neuronal von schwachen Lesern"

13. Juni 2019
von Börsenblatt
Ist die Kulturtechnik des Lesens gefährdet? Nicht, weil sich analoge und digitale Lektüre prinzipiell unterscheiden, meint Gerhard Lauer, Leiter des Digital Humanities Lab an der Universität Basel. Problematisch sei vielmehr die Unfähigkeit, sich auf einen Gegenstand zu konzentrieren.      

In der Diskussion um digitale Medien wird immer wieder die Bedeutung der Kulturtechnik des Lesens betont, implizit das Lesen gedruckter ­Bücher. Ist das Lesen auf Bildschirmen prinzipiell andersartig?
Eine ganz andere Art des Lesens gibt es nicht. Wir lesen immer noch mit dem Kopf und Herzen des alten Adams. Das immersive, selbstvergessene Lesen unterscheidet sich bei Print- und Digitalmedien kaum. Wenn ich in einer Romanhandlung versunken bin, lese ich mit meinem kognitiv-emotiven Apparat wie schon immer. Und da ist es gleichgültig, auf welchem Trägermedium. Bei Sach­texten sieht es etwas anders aus. Da zeigen sich Unterschiede, die das gedruckte Buch als überlegen erscheinen lassen. Es gibt allerdings bisher keine Studie über die Nutzung digitalen Sachbuchlesens, die dabei systematisch in den Blick nehmen würde, wie weit Leserinnen oder Leser mit digitalen Notierungs- und Kommentierungstechniken vertraut sind, eine der Voraussetzungen, um Informationen aus Texten gewinnen zu können.

Was halten Sie von der These, die auch Leseforscherin Maryanne Wolf vertritt, dass das Gehirn von Kindern, die Bücher lesen, andere Strukturen und kognitive Fähigkeiten entwickelt als das Gehirn von Kindern, die mit iPads in einem bücherlosen Haushalt aufwachsen?
Gehirne unterscheiden sich je nach Le­bensgeschichte und sind sehr stark beein­flusst von dem, was wir gelernt und eingeübt haben. Das Gehirn eines Menschen, der lesen gelernt hat, unterscheidet sich von demjenigen eines Menschen, der das nicht gelernt hat. Starke Leser unterscheiden sich neuronal von schwachen Lesern. Es gibt aber bisher keine validen Studien darüber, ob das Lesen von Büchern im Vergleich mit dem Lesen auf iPads neurologisch unterschiedlich ist, wenn mit der gleichen Intensität, im gleichen Umfang und in der gleichen Zeit gelesen wird – weil alle Menschen, die lesen, dieselben Veränderungen im Hirn aufweisen, wie der bedeutende französische Neurowissenschaftler Stanislas Dehaene herausgefunden hat. Maryanne Wolf vergleicht hingegen Leser mit Nicht- oder Wenig­lesern. Bei ihr steht die Frage im Vordergrund, welche Auswirkung das Lesen als soziale Praxis hat. Ihre Folgerungen gehen dann deutlich über ihre Belege hinaus. Gerade bei der Verknüpfung sozialer Erkenntnisse mit neuronalen Befunden sollte man vorsichtiger sein.

Ist das "Deep Reading" – das vertiefte, sich versenkende Lesen – also nicht dem gedruckten Buch vorbehalten?
Nein, aber man muss es gelernt haben, heute möglichst mit dem gedruckten Buch wie auch mit den digitalen Geräten. In der Diskussion wird nicht genügend differenziert, über welches Lesen wir dabei reden – es gibt so viele Arten der Lektüre. Bildungsgeschichtlich wichtig sind vor allem zwei: das immersive Lesen als beglückende Erfahrung und gelernt zu haben, sich länger lesend auf einen Gegenstand konzentrieren zu können.

Haben damit nicht viele ein Problem?
Genau. Wie der Ulmer Molekular­psychologe Christian Montag wiederholt belegen konnte, neigen viele Menschen dazu, im Schnitt alle zehn Minuten auf ihr Handy zu gucken. Digitale Medien sind für zu viele, gerade Jüngere, ein Anlass zur Ablenkung, nicht zur Konzentration. Anders gesagt: Den konzentrierten Umgang mit digitalen Geräten üben wir zu wenig ein. Eine wichtige Form es einzuüben, ist schon das Vorlesen. Wem in der Kindheit im Familienkreis nicht vorgelesen wurde, der hat später, beim Übergang zum peerzentrierten Lesen – also dem Lesen unter Gleichaltrigen – einen enormen Nachteil. Konzentra­tion muss man eben lernen. Daran hat sich nichts geändert.

Droht eine Generation heranzuwachsen, die das konzentrierte Lesen verlernt hat?
Um das beantworten zu können, bräuchte man eine umfassendere Leseforschung als es sie hierzulande gibt. Schaut man sich die KIM- oder JIM-Studien der vergangenen zehn Jahre an, verändert sich der Anteil derer, die täglich oder wöchentlich ein Buch lesen, nicht. Wir haben aber einen Bevölkerungsanteil in Höhe von 10 bis 15 Prozent, der große Probleme hat mit der Fokussierung auf Texte und mit der Mitarbeit in der Schule – bis hin zum fehlenden Schulabschluss. Insofern verändert sich schon etwas.

Woran liegt das?
Die Ursachen sind vielfältig und haben wenig mit den digitalen Medien selbst zu tun. Betrachtet man die Sache im Weltmaßstab, sieht es allerdings anders aus: Da nimmt das Lesen parallel zur steigenden »Beschulungsrate« zu. Was das digitale Lesen betrifft, so versuchen wir in sozialen Plattformen und anderen Medien – riesigen Lesewelten außerhalb des etablierten Literaturbetriebs – herauszufinden, wie groß der Anteil der Leser dort ist, wie und was diese dort schreiben und kommentieren. Die Leser dort sind vor allem Leserinnen und Autorinnen. Sie lesen sehr viel, schreiben und tauschen sich miteinander sehr intensiv über ihr Lesen und Schreiben aus. Wir wissen auch, dass diejenigen, die ein Umfeld haben, in dem gelesen wird – gleich auf welchem Medium – selbst auch lesen und schreiben, und das dann auf vielen Medien. Ich denke, die Debatte um Lesen analog versus digital ist sehr schief angelegt. Nicht digital versus analog ist entscheidend, sondern die Lesesozialisation.

Wie kann man bei den bildungsfernen Zielgruppen das Lesen gezielt fördern?
Es gibt eine Reihe von Wegen. Die Stiftung Lesen und viele andere Initiativen und Einrichtungen zeigen das. Das Hauptproblem ist aber, wie man junge Menschen überhaupt dazu bringt, ein Buch in die Hand zu nehmen oder in eine der Lesegruppen, auch eine der digitalen, zu gehen, wenn Bücher geradezu fremd sind. Der Sozialarbeiter Jörg Knüfken hat Projekte in Schulen initiiert, in denen ein geregelter Unterricht kaum mehr möglich ist. Er hat die Schüler ermutigt, ihre eigenen Erlebnisse und Gefühle in einem Tagebuch aufzuschreiben und dieses Tagebuch für sie sicher aufzubewahren. Das verändert Menschen elementar und bringt die Schüler dazu, wieder in den Klassenraum zurückzukehren und mit dem Lehrer über sich zu reden – für mich ein eindrucksvolles Beispiel, warum Lesen zählt. Solche Dinge finden auch im Internet in großer Zahl statt, etwa auf büchertreff.de, Lovelybooks oder Wattpad. Aber um auf solche sozialen Plattformen zu gehen, müssen die Menschen schon eine Eigenmotivation haben. Die haben nicht alle.

Werkeditionen erscheinen heute häufig online und in Printausgaben. Macht das für die Forschung einen Unterschied?
Nein, nur erlauben digitale Ausgaben eine Erschließungstiefe und eine Reichweite, die im Druck nicht abzubilden ist. Nehmen Sie die digitale Mozart-Ausgabe, die zunächst für die sehr schmale Zielgruppe der Musikwissenschaftler bestimmt war. Durch die Digitalisierung dieser Ausgabe und dann ihre Erweiterung sind Mozarts Werke in einer nicht gekannten Detailgenauigkeit einem weltweiten Publikum zugänglich gemacht worden – pro Tag gibt es rund 500 000 Zugriffe auf den Server. Man öffnet das Werk also einem Weltpublikum und kann vieles darstellen, was man im Druck so nicht abbilden kann. Digitale Editionen gestalten also das kulturelle Erbe dieser unserer Welt mit, und das ist viel.

Befürchten Sie, dass das Lesen als Kulturtechnik verschwinden könnte, wenn in immer mehr Haushalte digitale Sprachassistenten einziehen?
Bislang können wir das nicht beobachten. Es ist jedoch schwer abzusehen, ob Systeme wie »Amazon Echo«, die jetzt den Massenmarkt erreicht haben, unsere Kultur umpflügen werden. Dass orale Formen der Kommunikation eine größere Bedeutung haben könnten, ist nicht unwahrscheinlich. Weshalb ich dennoch skeptisch bin, das Schwinden des Lesens zu beklagen: Es gibt sehr viele Befunde, die zeigen, dass das Lesenlernen eine ganz wichtige kognitive Befähigung ist, um Kategorien über die Welt zu entwickeln. Lesen und Schreiben trainieren die Fähigkeit, komplexe, verschachtelte Sachverhalte darzustellen. Das wirkt sich positiv etwa auch auf das mathematische Verständnis aus. Kinder, die aus Haushalten kommen, in denen nicht gelesen wird, haben auch Nachteile im Mathematikunterricht. Daher vermute ich: Selbst wenn die Sprachassistenten im großen Stil kommen, bleiben Lesen und Schreiben die zentralen Kulturtechniken. Würden sie verschwinden, könnten wir die Komplexität, die wir in modernen Wissensgesellschaften erzeugen, gar nicht mehr bewältigen, also auch die Sprach­assistenten gar nicht bauen, die uns heute schon umgeben.

  

Buchtage Berlin 2019
Auszug aus dem Kongressprogramm am 18. Juni
11.15 Uhr: "Lesen im Zeitalter der digitalen Renaissance"
 (Prof. Dr. Henning Lobin)
12 Uhr: "Am Ende das Buch. Lesen im digitalen Zeitalter"
(Prof. Dr. Gerhard Lauer)
14 Uhr: "Blick ins Lesergehirn: Was der Buchhandel
von der Hirnforschung lernen kann" (Dr. Hans-Georg Häusel)

Anmeldung unter boersenverein.de/buchtage