Das Literatursystem Norwegens

Kleinlaster am Bücherregal

29. August 2019
von Holger Heimann
In Norwegen, dem diesjährigen Gastland der Frankfurter Buchmesse, sind die Arbeitsbedingungen für Verleger und Autoren außergewöhnlich gut. Doch auch dort nimmt die Lesebegeisterung ab.

Einen prominenteren Platz gibt es kaum in Oslo. ­Direkt neben der berühmten gläsernen Oper wächst die neue, kaum weniger imposante Nationalbibliothek empor. ­Zufällig ist die Ortswahl nicht. Die Literatur hat in Norwegen traditionell einen hohen Stellenwert. Sie spielte im Prozess der norwegischen Identitätsbildung im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle. Der Schriftsteller Erik Fosnes Hansen, der seit seinem Roman "Choral am Ende der Reise" zu den bekanntesten und erfolgreichsten Autoren im Land zählt, spricht gar von einer "­Poetokratie": "Was auf der Bühne im Nationaltheater gezeigt wurde, war ebenso bedeutsam für die Gesellschaftsentwicklung wie die Reden im benachbarten Parlament. In dem einen Haus diskutierten die Politiker, aber im anderen spielte Ibsen seine Stücke."

Die enorme Wertschätzung für Bücher zeigt sich heute auch in einem einzigartigen Fördersystem, das bereits in den 1960er Jahren etabliert wurde, also noch bevor die Ölförderung vor der Küste das Land zu einem der reichsten der Welt machte. Der Staat kauft seither von etwa 600 ausgewählten Novitäten Jahr für Jahr 555 bis 1.500 Exemplare und verteilt sie an die öffent­lichen Bibliotheken im Land. Derzeit hat sich die Zahl bei 700 Exemplaren eingependelt. Die sogenannte Abnahmeregelung war zunächst auf norwegische Prosa beschränkt. Doch bald kamen Kinder- und Jugendbücher hinzu, später auch Übersetzungen, Sachbücher und Graphic Novels.

Die wohl einmalige Bestimmung wurde zum vermutlich wichtigsten Baustein für ein prosperierendes Literatursystem und einen florierenden Buchmarkt. Der Chef des norwegischen Verlegerverbands, Kristenn Einarsson, erklärt die segensreichen Auswirkungen so: "Ein Verleger, der gehaltvolle Titel produziert, weiß, dass er von diesen Büchern mindestens 700 Exemplare verkauft. Das hat der Entwicklung der norwegischen Literatur enorm geholfen. Verlage werden so ermutigt, neue Autoren zu veröffentlichen. Zugleich wird es ihnen leichter gemacht, Schriftstellerkarrieren über lange Zeiträume zu fördern und an Autoren auch dann festzuhalten, wenn deren Bücher zunächst nicht rentabel sind."

In einem Land mit lediglich knapp über fünf Millionen Einwohnern und damit einer potenziell kleinen Leserschaft ist die Regelung für viele Verlage überlebenswichtig – und sie hilft Autoren. Großzügige Stipendien sorgen überdies für ein Auskommen, wie es sich Schriftsteller in vielen anderen Ländern nur erträumen können. Simon Stranger, der im Vorjahr einen der meist­diskutierten Romane veröffentlicht hat, sagt: "Wer ein Stipendium bekommt, kann nebenher Teilzeit in einem anderen Job arbeiten. Wenn man die Einkünfte miteinander kombiniert, hat man ein ganz normales Leben." Stranger hat aus dem Englischen übersetzt und mit behinderten Kindern gearbeitet. Der Erfolg seines Romans "Vergesst unsere Namen nicht" (deutsch bei Eichborn) erlaubt es ihm, sich nun ganz auf das Schreiben zu konzentrieren.

Der Gleichheitsgedanke, der für die norwegische Gesellschaft von jeher eine wichtige Rolle spielt, prägt auch das Geschäft mit Büchern: Jeder Autor, unabhängig davon, ob er bekannt oder unbekannt ist, unterschreibt zu den gleichen Honorarkondi­tionen – egal, bei welchem Verlag. "Wenn Verlage um Autoren konkurrieren, dann tun sie das auf der Basis von Service und Qualität. Wer die interessantesten Autoren haben will, der muss schlichtweg im Lektorat und im Marketing punkten", sagt Einarsson.

Dass in dem dünn besiedelten Land immer neue Autoren heranwachsen, die sich weltweit einen Namen machen, verdankt sich ganz entscheidend diesen unterschiedlichen Regelungen. Davon ist Per Petterson, einer der stilleren Stars der norwegischen Literaturszene, überzeugt: "Es ist einfach ein sehr gutes Gesamtsystem", sagt er.

Und trotzdem scheint auch das Literaturparadies Norwegen gefährdet zu sein. Bücher haben, wie überall in der Welt, auch in dem skandinavischen Land an Stellenwert verloren. Erik Fosnes Hansen klagt: "Die jungen Leute lesen viel weniger als früher und die Erwachsenen auch. Und wenn sie lesen, wollen sie eindeutige, leichte Literatur haben."

Die Verleger im Land sehen sich nicht in erster Linie als Erzieher. Auch in Norwegen gilt: Ein verkauftes Buch ist ein gutes Buch für die Bilanz – unabhängig von seiner literarischen Qualität. Die Verlage können zudem noch immer auf ein Interesse an Büchern zählen, das weltrekordverdächtig ist: 88 Prozent der Bevölkerung im lese­fähigen Alter greifen mindestens einmal im Jahr zu einem Buch; in Deutschland sind es lediglich 75 Prozent. Im Durchschnitt liest jeder Norweger und jede Norwegerin jährlich 15 Bücher. Trotzdem mahnt Einarsson: "Wenn man genauer hinschaut, dann wird deutlich, dass die Vielleser weniger lesen. In der Altersgruppe der 25- bis 40-Jährigen gibt es einen Rückgang von fast 50 Prozent." Ähnlich wie in Deutschland zeigen Umfragen, dass viele Menschen durchaus ein Problembewusstsein entwickelt haben. "Die Leute fragen sich selbst, wie sie vom Handy wegkommen", sagt Einarsson.

Auch die norwegischen Verleger haben sich vorgenommen, einfallsreicher für das Lesen zu werben. Eine Kampagne unter der Überschrift "Ganz Norwegen liest", die im Herbst parallel zum Auftritt der Norweger auf der Frankfurter Buchmesse startet, soll dabei helfen. "Wir richten uns vor allem an die Vielleser. Wir wollen diese Gruppe wieder dazu verführen, mehr Bücher in die Hand zu nehmen", erklärt Einarsson. Die breit angelegte Kampagne soll Unternehmen und Institutionen aus dem ganzen Land einbeziehen.

Der Chef des Verlegerverbands ist dabei durchaus optimis­tisch – und das nicht ohne Grund. Als in den 1990er Jahren zu dem bis dato einzigen norwegischen Fernsehsender ein viel größeres Angebot an Programmen hinzukam, ließen sich die Verleger schon einmal etwas einfallen, um Bücher in den Fokus zu rücken. Seinerzeit wurde in Oslo eine Buchmesse etabliert und Schriftsteller gingen auf ausgedehnte Lesereisen. Mit Erfolg.

Was Engagement gepaart mit Einfallsreichtum bewirken kann, hat der Bibliothekar Reinert Mithassel mit seinem Team unlängst bewiesen. Ausgerechnet in Tøyen, einem armen Problemviertel Oslos, hat der engagierte Mann vor drei Jahren eine außergewöhnliche Bibliothek mitbegründet. Es gibt darin zwar Bücheregale wie in anderen Bibliotheken auch, aber auffälliger sind die ausrangierten Kleinlaster und Seilbahnkabinen, die zu Rückzugsorten umfunktioniert wurden. Erwachsene haben keinen Zutritt, die Teenager des Viertels kommen deshalb umso lieber. Die Jugendbibliothek Tøyen hat mittlerweile nicht nur zahlreiche Preise gewonnen, sie hat auch erste Nachahmer gefunden. Denn während andernorts im Land die Ausleihen leicht rückläufig sind, freute sich Mithassel im Vorjahr über einen Zuwachs von 80 Prozent.