Amazon setzt beim Einkauf andere Prioritäten

"Der Verkauf gedruckter Bücher ist de facto für viele Verlage nicht mehr möglich"

20. März 2020
von Börsenblatt

In der Corona-Krise priorisiert Amazon Haushaltswaren, Sanitätsartikel und weitere Produkte mit hoher Nachfrage. Um die Lager schneller auffüllen und an Kunden liefern zu können, hat der Online-Händler die Bestellung für andere Waren bis Anfang April ausgesetzt. Eine schlechte Nachricht für Verlage – aber vielleicht auch eine Chance für den Buchhandel? Meinungen aus der Branche.

In dem Schreiben, das Verlage und Verlagsauslieferungen in dieser Woche erhalten haben und das in der Branche kursiert, benennt der Online-Händler zwei zentrale Punkte seiner veränderten Bestellpolitik:

• Verringerte Anzahl an Bestellungen: "Wir haben vorübergehend die Bestellung für Produkte ausgesetzt, bei denen es sich nicht um Haushaltswaren, Sanitätsartikel oder andere Produkte mit hoher Nachfrage handelt."

• Verlängerte Lieferfenster für bestehende Bestellungen: "Wir haben die Versand-/Lieferfenster für einige vorhandene Bestellungen erweitert, damit Sie mehr Zeit haben, die Bestellung zu versenden. Bitte senden Sie Ihre Produkte gegen Ende des verlängerten Zeitfensters. Dies gilt ab heute bis zum 5. April 2020."

Ein Amazon-Sprecher hat den Inhalt des Schreibens auf Anfrage von boersenblatt.net bestätigt und die Gründe für diese Entscheidung erläutert: "Wir verzeichnen derzeit mehr Online-Einkäufe, daher sind einige Produkte wie Waren für den täglichen Bedarf und medizinische Verbrauchsgüter aktuell nicht vorrätig. Aus diesem Grund priorisieren wir vorübergehend den Eingang von Waren für den täglichen Bedarf, medizinischen Verbrauchsgütern und anderen Produkten mit hoher Nachfrage in unseren Logistikzentren. Dadurch können wir diese Produkte schneller annehmen, auffüllen und an Kunden versenden. Uns ist bewusst, dass dies eine Veränderung für unsere Verkaufspartner bedeutet, und wir bedanken uns für ihr Verständnis, dass wir diesen Produkten vorübergehend im Sinne unserer Kunden den Vorrang geben.“

Was bedeutet diese Entscheidung für die Verlage – nicht zuletzt für die kleineren unabhängigen Programme, die besonders auf den Online-Handel angewiesen sind?

Björn Bedey, Verleger der Bedey Media GmbH und im Börsenverein Mitglied im Sprecherkreis der IG unabhängige Verlage

"Die veränderte Lagerpolitik von Amazon ist gerade für unabhängige inhabergeführte Verlage mit einem belletristischen Programm eine Katastrophe. Hatten wir doch bei Amazon die Möglichkeit, unabhängig von der Einkaufspolitik des Händlers gleichberechtigt mit den Großverlagen unsere Bücher dem Leser präsentieren zu können.

Der Leser hatte die Möglichkeit, sich einen breiten Überblick über das Sortiment zu verschaffen und nach seiner Vorliebe Titel auszuwählen. Entsprechend war Amazon für viele Verlage der primäre Vertriebskanal. Es ist aufgrund der nicht vorhandenen Verbraucherdaten für die Onlineshops des unabhängigen Sortiments und der Filialisten unmöglich, dieses aufzufangen – selbst wenn die Leser umsteigen.

Zusätzliche Brisanz hat diese Umstellung in der Warenpriorisierung bei Amazon im Kontext der Schließung der Buchhandlungen. Ein Verkauf von gedruckten Büchern ist de facto für viele Verlage nicht mehr möglich. Dies wird entsprechende Konsequenzen haben."

Jochen Mende, Geschäftsführer der Verlagsauslieferung Prolit

 "Wir beobachten bereits seit Montag, dass Amazons Bestellvolumen bei Prolit drastisch zurückgeht – wenn überhaupt, kommen wir gerade mal auf ein halbes Prozent der üblichen Menge. Die Rundmail von Amazon an die Verlagskunden kam dann erst am Dienstag. Die Entscheidung, andere Produkte zu priorisieren und den Bestand an Prolit-Büchern frühestens ab dem 5. April wieder aufzustocken, ist für unsere Verlage auf mehreren Ebenen sehr bitter:

  • Viele hatten gehofft, über den Online-Handel zumindest einen Teil der Einbußen im stationären Geschäft auffangen zu können. Amazon ist der größte Player im Netz. Diese Hoffnung wird sich also nicht erfüllen.
  • Bei Verlagen, die ihre Bücher über Amazon Advantage anbieten, verpflichtet sich Amazon, jeweils ein Exemplar am Lager verfügbar zu halten. Dieser Verpflichtung kann der Online-Händler nun unter Umständen nicht nachkommen. Die Verlage zahlen aber trotzdem das entsprechende vereinbarte Lagerhaltungsentgelt.
  • Wenn Titel jetzt am Amazon-Lager leer laufen und Kunden online danach suchen, dann könnte der Eindruck entstehen, dass diese Titel gar nicht mehr lieferbar sind. Das wäre für unsere Verlage fatal."

Andreas Rötzer, Verleger von Matthes & Seitz, Berlin

"Welche Folgen die veränderte Einkaufspolitik von Amazon hat, ist für uns im Moment noch schwer einzuschätzen. Unser Amazon-Anteil war nie so groß, aber momentan zählt jedes verkaufte Buch, insofern werden wir auch das spüren."

Matthias Heinrich, Geschäftsführer bei BrockhausCommission, hatte die neuen Prioritäten des Online-Händlers schon am Mittwoch auf boersenblatt.net mit deutlichen Worten kritisiert:

"Stark irritiert und empört müssen wir feststellen, dass Amazon sich in der Krise rein profitorientiert verhält. Der Warenumschlag Buch wird wohl zugunsten versorgungsrelevanter Produkte stark reduziert. Damit wird es befristet nur zu punktuellen Bestellungen bei Verlagen kommen, das preisgebundene und margenarme Buchgeschäft wird zurückgestellt.

Wer darin Gutmenschentum und ein Idealstreben nach einer flächendeckenden Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern durch den Onlinehandel in infrastrukturell schlecht aufgestellten Gebieten vermutet, darf das gerne tun. Für mich/uns grüßt hier eher Machiavellismus, sonst nichts. Wer den Kunden hat, hat die Macht, Neukundengewinnung um jeden Preis. Auf der Strecke bleibt bei Amazon nicht nur das Produkt Buch."

Christian Riethmüller, Geschäftsführer der Buchhandlung Osiander, erkennt in dem veränderten Bestellverhalten von Amazon durchaus auch Chancen für den stationären Buchhandel, der online weiter liefern kann und darf:

"Auf jeden Fall ergibt sich hier zunächst einmal ein Vorteil für den Buchhandel. Aber wir müssen uns auch fragen, wie lange die Lieferdienste noch liefern dürfen und was sie vielleicht nur noch werden liefern dürfen. Es ist extrem spannend im Moment und man kann wenig Prognosen stellen." (mehr zur Lage bei Osiander in einem ausführlichen Interview mit Christian Riethmüller hier auf boersenblatt.net).