70 Jahre Kulturzeitschrift "Sinn und Form"

Betreutes Lesen

16. Januar 2019
von Nils Kahlefendt
"Sinn und Form" feiert seinen 70. Geburtstag in der Akademie der Künste am Pariser Platz. Noch immer gehört sie zu den gelungensten deutschsprachigen Kulturzeitschriften.

Bei der Zeitschrift "Sinn und Form", die ursprünglich "Maß und Wert" heißen sollte und deren erste Nummer im Januar 1949 erschien, signalisierte schon der Titel den Willen zu Dauer und Bedeutung. Als Brücke zwischen bürgerlichen und sozialistischen Künstlern hatten Johannes R. Becher und Paul Wiegler die Zeitschrift gegründet; unter ihrem 1962 geschassten Chefredakteur Peter Huchel wurde sie zu einer Institution der frühen DDR. György Konrad wollte vor 20 Jahren nur diese frühe Phase und allenfalls die 13 Nachwende-Jahre unter Chefredakteur Sebastian Kleinschmidt gelten lassen. Gustav Seibt, der schon zum 50. Geburtstag der Zeitschrift sprach, damals drüben am Hanseatenweg, will diese Periodisierung auch zur Feier des 70. nicht durchgehen lassen.

"Reden in vielen Stimmen"

Ein zerlesenes Sammlerstück, die Ausgabe von Juli/August 1989, ist sein Kronzeuge: Unter den Autoren auf der (damals noch echten, heute aufgedruckten) Bauchbinde: Erich Honecker, Gertrud Kolmar, Christoph Hein, Fritz Rudolf Fries, Günter Kunert... Den mächtigsten Mann des Landes, der mit einem holprigen Grußwort zum damals 40. Heftjubiläum vertreten war, als Autor unter anderen zu behandeln, zeigt für Seibt die "Methode Sinn und Form": Das "Reden in vielen Stimmen" und die "Abwesenheit von Erläuterungen". Peter Hacks, der in der kleinen Vitrinenausstellung im Foyer mit einem Wutbrief über die angeblich miese Satzqualität vertreten ist, schrieb "Sinn und Form" sogar einen wesentlichen Anteil am Untergang der DDR zu, neben Gorbatschow und anderen Naturkatastrophen. Dass die Zeitschrift unter Sebastian Kleinschmidt und seinen Nachfolgern, dem Dreier-Team von Chefredakteur Matthias Weichelt, Gernot Krämer und Elisa Primavera-Lévy, ihrer "Logik der Abweichung", dem "unironischen Ernst" treu und dabei stets aufmerksam für "das Neue überhaupt" blieb, ist für Seibt ein Glücksfall. "Betreutes" statt "kuratiertem" Lesen und kommunikativer Aufdringlichkeiten.

Form follows function: Klassizistische Schrift, sparsamer Satzspiegel – die Typografie von Eduard Stichnote, unverändert seit 1949, und das nur für gelegentliche Faksimiles gelockerte Bilderverbot sind wunderbar unzeitgemäß. Hat eine solche Zeitschrift in einer sich rasant verändernden Medienwelt noch ihren Platz? Ist "Das Abenteuer des Lesens", wie die Jubiläumsveranstaltung im Plenarsaal der Akademie am Pariser Platz überschrieben war, nicht gegenüber anderen Welterschließungsmethoden ins Hintertreffen geraten? Gar ein Auslaufmodell? Ein mit Georg Klein, Sibylle Lewitscharoff, Gustav Seibt, Cécile Wajsbrot und Matthias Weichelt prominent besetztes Podium ist vom Gegenteil überzeugt. Was Klein über die Zeitschrift sagte ("Ein Forum höherer Geselligkeit"), es galt auch für diesen Abend. Huchels "Pflanzstätte" blüht auch nach 70 Jahren. Das in einer Auflage von 3.500 Exemplaren erscheinende Heft, früher eine reine Abo-Zeitschrift, legte zuletzt im Einzelverkauf zu. Es scheint ganz so, als würde die am Prinzip Print festhaltende "Sinn und Form" auch in einer zunehmend digitalisierten Welt als Gegenentwurf geschätzt.