Rainer Moritz über die Leipziger Buchmesse 2016

Mangafiguren, Altersgebrechen und Sabbaticals

31. März 2016
von Börsenblatt
Auch Rainer Moritz war wieder auf der Leipziger Buchmesse. Zwar ist der Trubel mittlerweile vorbei, aber ein paar besonders eindrückliche Erlebnisse wirken in dem Autor und Literaturkritiker noch immer nach.

So eine Buchmesse fordert den ganzen Menschen, und manchmal frage ich mich, ob ich diesen Anforderun­gen noch lange gewachsen sein werde. Seitdem ich aus Leipzig zurück bin, leide ich unter Albträumen. Urplötzlich schrecke ich aus dem Schlaf hoch und sehe Jugendliche in sehr bunten Kostümen neben meinem Bett: schrill geschminkte, in viel Kunstseide gewandete Gestalten, die ungeahnte Körperteile hemmungslos entblößen, obwohl das ihren Gesamteindruck nicht positiv beeinflusst. Was es damit auf sich habe, fragte mich meine Mutter am Telefon, und ob man in Sachsen später Fasching feiere. Von meinen Albträumen habe ich Mutter ­lieber nichts erzählt; sie sorgt sich so leicht.
Immerhin hätte ich ihr davon berichten können, dass die Leipziger Messe viel mehr als bunte Mangafiguren zu bieten hat. Außenstehenden wie meiner Mutter kommt es so vor, als würde in Leipzig vor allem über literarisch und kulturell belangvolle Themen gesprochen. Als hätte ich, ihr Kind, regen intellektuellen Austausch mit Messestargästen wie Howard Carpendale oder wem auch immer. Dabei verbringe ich die meiste Zeit damit, in die mal wieder sinnlos abgesperrten Hallenübergänge einzudringen und mit dem Wachpersonal zu streiten. Von wegen, sagte ich zu meiner Mutter, in Leipzig geht es zuerst ums Zwischenmenschliche, um Dialoge, die man anderswo nie führen würde und die das Allgemeinwissen mehren. Ja, gewiss, ein wenig habe ich auch über die für den Herbst angekündigten neuen Werke von Alex Capus, Arnold Stadler oder Katja Lange-Müller geplaudert und den frischesten Branchenklatsch aufgesogen oder selbst gestreut.
Das waren aber nur Randthemen. Viel eindrücklicher war es für mich, am Stand eines in Leipzig mit wichtigen Preisen bedachten Verlags geduldig auf dessen Mitarbeiterin zu warten, die mit ihren Wiener Würstchen nicht zurande kam, und derweil über meine Zukunft nachzudenken. Oder beim Weißwein­empfang des "Philosophie Magazins" mit Meike Feßmann und Norbert Kron über nahende Altersgebrechen zu räsonieren. Letzterer beschrieb sehr ausführlich eine Art Tinnitus am Hals, der ihm zu schaffen mache, während Erstere gegen die Strapazen des Kritikerinnendaseins mit ausgefeilten Yoga-Übungen ankämpft. Erfolgreich, wie sie sagt.
Unser Gedankenaustausch dauerte sehr lange, weshalb ich fast zu spät zum Reclam-Stand kam, wo mir ein Buchprojekt zum Thema Resilienz vorgestellt wurde. In meiner Dämlichkeit sagte mir das Wort wenig; inzwischen weiß ich, dass es etwas mit psychischer Widerstandsfähigkeit zu tun hat. Das klingt gut, und da das vielleicht bei der Konfrontation mit Manga­verkleidungen hilft, habe ich sogleich Interesse für das Bändchen angemeldet. Von dort ging ich weiter zum Ullstein-Stand, wo mir ein Buch empfohlen wurde, dessen Präsentation keine Eile habe, da das Thema "morgen noch nicht schlecht" würde. Beruhigend, in unserer hektischen Zeit, in der schneller remittiert als ausgepackt wird. Worum es dabei ging, habe ich leider vergessen. Zuletzt kam ich zum Luchterhand Verlag, wo es immer schön ist. Wir sprachen über Hanns-Josef Ortheil und Terézia Mora, selbstverständlich, aber noch länger über das Sabbatical, das der Luchterhand-Kollegin gewährt worden sei.
Sabbatical ... was für ein feines Wort und mit was für einem feinen Inhalt! Wenn ich ehrlich bin, ist mir von Leipzig nichts stärker in Erinnerung geblieben; nicht einmal ein gemeinsamer Auftritt mit Denis Scheck konnte das toppen. Sabbatical ... das würde mich von meinen Albträumen befreien, ganz sicher.