Antiquariat

"Papierschnitzel um Wurmlöcher gruppiert"

22. Dezember 2017
von Börsenblatt
Zum Erhaltungszustand. Nachfolgender Text aus der Feder des Antiquars Hans Dietrich von Diepenbroick-Grüter (1902–1980) erschien 1950 in der Börsenblatt-Beilage "Aus dem Antiquariat". Wir geben ihn hier ungekürzt wieder.

Zum Erhaltungszustand

Es ist erfreulich, daß in der Praxis des Antiquars der Erhaltungszustand in ehrlichen Worten angegeben wird, nicht wie im Briefmarkenhandel eine Inflation der Begriffe stattgefunden hat. Während dort die Skala mit gut (= schlecht) über sehr gut, schön, sehr schön, Prachtstück (= mittelmäßig), Kabinettstück, Luxusstück (= gut) verläuft, pflegen wir die Mängel zu nennen und ein Buch ohne Mängelangabe selbstverständlich als gut erhalten zu betrachten. Wird der Erhaltungszustand aber ausdrücklich als gut (bei älteren Büchern) oder neuwertig (bei neueren Büchern) bezeichnet, so ist er auch gut bzw. neuwertig.

Leider ist dieser Grundsatz in letzter Zeit besonders von den Gelegenheitsantiquaren vielfach nicht respektiert. Es ist zu verstehen, wenn in den Kurz-Anzeigen unter "Angebotene Bücher" bei kleinen Objekten die Mängel nicht genannt werden. Sind solche aber vorhanden, so müssen sie dem etwaigen Besteller vor Lieferung mitgeteilt werden. Bei direkten Angeboten, wo keine Rücksicht auf Raumersparnis genommen werden braucht, sollte das eine Selbstverständlichkeit sein. Aber leider gehen die Erfahrungen in letzter Zeit dahin, daß mehr als die Hälfte aller auf Buchhändlerangebote bestellten Bücher zerfetzt, mit Pergamentpapierstreifen beklebt, schmutzig oder unvollständig geliefert werden. Und zwar – das ist das Bedenkliche – sämtlich im Angebot als "gut erhalten" bezeichnet oder ausdrücklich unter der Bedingung bestellt. Auf Reklamationen tritt der Übelstand dann zutage – Unwissenheit, Unfähigkeit zur Ausübung des Antiquarberufs. Denn meistens ist darauf die mehr oder minder unverschämte Entgegnung: dem hohen Alter (1860! etwa) entsprechend gut erhalten; als wären Bücher seit 1860 getragene Kleidungsstücke! Bücher des 18. Jahrhunderts in "guter Erhaltung" müßten demnach nur mehr Fetzen sein, und Inkunabeln Papierschnitzel um Wurmlöcher gruppiert.

Allen ungelernten Antiquaren sei es gesagt: der Erhaltungszustand eines Buches hängt nur von der Behandlung ab. Es gibt gut und schlecht erhaltene Bücher aus jeder Epoche. Darum sind Mängel nicht selbstverständlich, sondern müssen genannt werden. Schlecht erhaltene Bücher sind kaum die Hälfte von gut erhaltenen Büchern wert, heute sind sie so gut wie unverkäuflich.

Diepenbroick

Hans Dietrich von Diepenbroick-Grüter: Zum Erhaltungszustand. In: Aus dem Antiquariat. Angebotene Bücher. Gesuchte Bücher 1950/36. Beilage zum Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Frankfurter Ausgabe, Nr. 36, 5. Mai 1950, A 361 f.

Wikipedia-Eintrag über den Verfasser hier