Besondere Hörperlen

Leseleistungen

18. Oktober 2018
von Börsenblatt
David Foster Wallace, Heinz Strunk, Oliver Guez, Marcel Proust und eine große Lyrik-Box – fünf Hörbuchproduktionen, die man im Regal haben sollte. Meint unser Hörbuchexperte Wolfgang Schneider. 

Was empfindet der Hummer, der in einen Topf mit kochendem Wasser geworfen wird? "Selbst bei geschlossenem Deckel hört man, wie er sich wehrt und aus seiner Not entkommen will. Dieses Kratzen der Scheren an der Topfwand …" Solche Notlagen sind ein großes Thema für David ­Foster Wallace. Mit aufgekratztem Ton liest der Schauspieler Christian Ulmen seine Reportage über das Hummer-Festival in Maine ("Am Beispiel des Hummers"), und allein wie er das bei Wallace unvermeidliche Wort "Fußnote" betont, beweist, dass er die hyperaktive Theatralik in dessen Texten gut begriffen hat. Es geht um ein kulinarisches Massaker und die Niederungen der Massengourmandise (zu viele Soßen, zu wenige Servietten) – und um die Biologie des Hummers, der einmal als Billigfraß für die Unterschicht galt.

Andere Essays und Reportagen widmen sich, zum Beispiel, dem größten Branchentreffen der ­Pornoindustrie in Las Vegas. Am eindrucksvollsten ist der frühe autobiografische Text "Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur üblen Sache". Hier widmet sich Wallace jenem Thema, das für ihn das intimste und tödlichste war: der Depression ("Die wahre Traurigkeit der Erwachsenen", Essays und Reportagen, gelesen von Lars Eidinger, Christian Ulmen und anderen, Tacheles, 289 Min., 17,95 Euro). Er beschreibt sie als feindliche Übernahme der Seele, als verschlingendes "pechschwarzes Loch mit einer Andeutung von Zähnen". Lars Eidingers ­Lesung bringt die Mischung aus lockerer, flapsiger Manier und tödlichem Ernst, wie sie den jugendlichen Ich-Erzähler kennzeichnet, perfekt zur Geltung. Ganz ruhig und merkwürdig heiter klingt er, wenn er solche Sätze vorträgt: "Hey, schaut euch mal diese offene Wunde in meinem Gesicht an, ich glaub, damit geh ich besser mal ins Krankenhaus." Allerdings ist da gar keine Wunde – bis der Junge den vermeintlichen Riss mit tiefen Stichen selbst vernäht, sodass bei der Reparatur dieser dilettantischen Handarbeit in der Klinik endlich jene tiefe Fleischwunde entsteht, von der er zuvor nur fantasierte. Diese Wunde hat etwas von Kafkas Logik.

Verwundete Charaktere zeichnet auch Heinz Strunk. Sein vor zwei Jahren erschienener Roman "Der goldene Handschuh", der das Leben des Frauenmörders Fritz Honka zur Vorlage hat, ist eine radikale Darstellung existenzieller Kaputtheit und menschlicher Verzweiflung. Ein Extremfall, der aber doch für die allgemeine Misere steht, die Strunk nun in 50 Kurzgeschichten erkundet ("Das Teemännchen", Tacheles, 244 Min. 15,95 Euro). Seine Figuren sind Mängelwesen und Scheiternde. Vor allem die Partnersuche ist gefährliches Kollisionsgebiet. Was kann da nicht alles heillos zusammenprallen! Zum Beispiel Anspruch und Wirklichkeit. Der Blick des Erzählers ist erbarmungslos, und dennoch sind die Geschichten von Einfühlsamkeit und abgründiger Komik geprägt. Als passionierter Performer gibt Strunk der Hörbuchfassung starken Mehrwert. Dieser Drive der Verzweiflung, diese atemlose, manchmal ein wenig vernuschelte Emphase! Nicht perfekt, aber ungemein authentisch – also doch perfekt.

Eine große editorische Leistung ist die "Poet's Collection" von Michael Krüger und Christiane Collorio (Hörverlag, 884 Min., 71,95 Euro). Sie versammelt englischsprachige Lyrik in den Originaltönen der Dichter, beginnend mit dem im Rauschen kaum vernehmbaren Singsang von Alfred Lord Tennyson, um 1890 aufgezeichnet auf Wachsplatte von Thomas Edison. Wesentliche Qualitäten lyrischen Schreibens kommen dem akustischen Medium entgegen: Versmaß und Rhythmus, die Reime und die Musik der Vokale, das Zusammenspiel von Klang und Sinn.

Allerdings ist die Kunst der Deklamation der Zeit unterworfen; das Pathos vergangener Epochen wirkt heute befremdlich. Viele Dichter sind zudem keine guten Vorleser. Und nicht nur die sehr frühen Originaltöne sind bisweilen von so dürftiger Qualität, dass sie den Texten nicht guttun: Hatte Hemingway wirklich eine so hohe, blecherne, gepresst klingende Stimme? Walt Whitman scheint auf einer rhythmisch fauchenden Lokomotive zu sitzen. Sehr eindrucksvoll ist dagegen die eindringliche, konzentrierte und nicht zu pathetische Lesart von T. S. Eliot und Ezra Pound, melodisch die Intonation des Afroamerikaners Langston Hughes, berührend und erschütternd James Laughlin, wenn er im Gedicht "Experience of Blood" den Selbstmord seines Sohns thematisiert. Am meisten überrascht die Stimme von Sylvia Plath. Der Vortrag ihres Gedichts "Lady Lazarus" ist ein Höhepunkt der Sammlung. Sie liest kühl und leidenschaftlich zugleich: "Dying / Is an art, like everything else. / I do it exceptionally well." Hier kommen Liebhaber der lyrischen Aura auf ihre Kosten.

Eine herausragende Hörspielproduktion ist "Sodom und ­Gomorrha" gewidmet, dem vierten Teil von Marcel Prousts ­Zyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" (Hörspiel, mit Michael Rotschopf, Lilith Stangenberg, Corinna Kirchhoff und anderen, Produktion SWR, Hörverlag, 318 Min., 21,95 Euro). Hier rückt das Thema der Geschlechtsidentitäten in den Fokus. Für den jungen Marcel löst sich sozusagen die »binäre« Ordnung der Geschlechter auf beim Anblick des Barons de Charlus, der ihm ungeachtet seiner hervorgekehrten Maskulinität plötzlich als "eine Frau" erscheint. Oder zumindest als kapitales ­Zwischenwesen. Eine Strategie der Camouflage besteht darin, dass der Erzähler mit der verstellten Stimme eines Mannes spricht, der vorgibt, ausschließlich Frauen zu begehren. Von dieser gesicherten Warte aus nimmt er die Homosexualität als Spielart des menschlichen Geschlechtertheaters in den Blick.

Den fabelhaften Charlus zu sprechen ist keine leichte Aufgabe. Die Größe der Figur muss gerade auf der abschüssigen Bahn ihres beginnenden Niedergangs fühlbar bleiben. Gerd Wameling klingt in jedem Moment nach dem Baron, sehr lässig, die Stimme fest und doch mit einer graziösen Satzmelodik und jener leichten Nasalität, wie sie Mann-Männer nun einmal nicht haben. Michael Rotschopf verleiht dem Ich-Erzähler eine ungewöhnliche Souveränität. Er hat eine Strenge und Schärfe im Ton, die sehr gut zu den analytischen Ausführungen des Romans passt, ihnen eine große Präzision verleiht. Marcels ­eifersüchtig überwachte Freundin Albertine wird gesprochen von Lilith Stangenberg. Ihre mädchenhafte Stimme ist wechselnd liebschmeichelnd, kratzig oder schmollend – und mit einem koketten Unterton, sodass man ihr einige Durchtriebenheit zutraut.

Die heikelste Rolle als Vorleser übernimmt Burghart Klaußner mit Olivier Guez' Dokumentarroman "Das Verschwinden des Josef Mengele", (DAV, 389 Min., 16,95 Euro). Drei Jahrzehnte dauerte die Flucht des erst gar nicht, dann nur zögerlich verfolgten, schließlich weltweit meistgesuchten NS-Täters, der unterstützt wurde von seiner Familie sowie von Nazi-Netzwerken in Europa und ­Lateinamerika. Guez kommt dem Auschwitz-Arzt unbehaglich nahe durch Erzähltechniken wie der erlebten Rede. Der Roman lässt die ungeheuren Verbrechen des "Ingenieurs der Rasse" in keinem Moment vergessen, er stellt Mengeles ­Erbärmlichkeit im Umgang mit der Schuld dar, sein Strebertum, seinen Fanatismus und seine paranoide Wehleidigkeit – und doch fühlen wir beim Hören am Ende mit dem Gehetzten mit: ein Mensch, auch er. Klaußners Lesung überzeugt durch die Kunst der "Untertöne". Sie balanciert gekonnt zwischen Distanz und Nähe, sachlich kühlem Dokumentargestus und Anverwandlung. Man könnte es die Erfindung der sarkastischen Empathie nennen.