Deutscher Buchpreis 2016

Shortlist-Abend in Frankfurt: Zittern, schwitzen, lesen

2. Oktober 2016
von Börsenblatt
Am 1. Oktober konnte sich das Lesepublikum im Frankfurter Literaturhaus einen Eindruck von den Autoren der Shortlist für den Deutschen Buchpreis machen. Es lasen: André Kubiczek, Philipp Winkler, Eva Schmidt, Reinhard Kaiser-Mühlecker und Thomas Melle. Nur Bodo Kirchhoff konnte nicht dabei sein.

Rund 200 Gäste verfolgten den Shortlist-Abend im Frankfurter Literaturhaus am Mainufer, viele von ihnen Journalisten und literaturbegeisterte Wiederholungstäter - zum neunten Mal wurden in je halbstündigen Gesprächen und Lesungen die Autoren und ihre Romane der Buchpreis-Shortlist in einer gemeinsamen Veranstaltung des Literaturhauses, des Börsenvereins, des Kulturamtes Frankfurt sowie dem Medienpartner hr2-Kultur auf die Bühne gebracht. Fünf von sechs Shortlist-Kandidaten stellten sich in Frankfurt vor, Bodo Kirchhoff konnte wegen eines Auslandsaufenthalts nicht in seiner (Wahl-)Heimatstadt dabei sein.

Kirchhoff stand schon einmal auf der Longlist des Deutschen Buchpreises – das war im Jahr 2012 mit seinem Roman „Die Liebe in groben Zügen“; seine Novelle „Widerfahrnis“ (ebenfalls Frankfurter Verlagsanstalt) gilt manchen Kritikern als Favorit auf der Liste.

Der Favorit des Frankfurter Publikums war - urteilt man nach dem Applaus - offenbar Thomas Melle. Sein autobiografisches Buch „Die Welt im Rücken“ (Rowohlt Berlin) ist die fiktional aufgeladene Geschichte einer Krankheit, seiner eigenen Krankheit: der manisch-depressive Autor macht seine bipolare Störung zu Literatur. Dies gelingt ihm, mit erkennbarem literarischem Gestaltungswillen. Nicht ohne Grund hat der Rowohlt Verlag auf dem Schutzumschlag auf eine eindeutige Genrebezeichnung verzichtet. Literaturkritikerin Sandra Kegel („FAZ“) hatte etwas Mühe, einen Einstieg in das Gespräch zu finden, das sich eben nicht nur um Literatur, sondern auch um die psychische Erkrankung des Autors drehen musste. „Ich will zur Enttabuisierung des Themas beitragen“, erklärte Melle ohne Umschweife. Vor zwei Jahren war Melle bereits mit dem Roman „3.000 Euro“ auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises vertreten.

Thomas Melle, der Interviewtermine mit Pressevertretern in der Vergangenheit durchaus schon abgesagt hatte und als besonders zurückhaltend gilt, führte an diesem Abend humorvoll durch die Genese seines Buches. Er erklärte, wie es sich anfühlt, über das eigene Ich zu schreiben, das in so verschiedene Persönlichkeiten zerfällt: „Ich habe eine nüchterne Distanz zu mir und gehe wie mit dem Schutzanzug einer Erzählfigur sehr gesteuert, sehr kontrolliert rein und raus in die verschiedenen Phasen“, so Melle. Man könne es sich vorstellen wie bei einem Schauspieler, der sich selbst auf der Bühne spielt. Es sei ihm wichtig gewesen, seine Krankheit weder zu dämonisieren, noch sich selbst ins Licht des Genies zu rücken. „Diese Krankheit ist ein Fluch für mein Schreiben. Ich hatte ganz andere Dinge vor, aber meine Bücher sind dunkel und mit Psychomacken ausgestattet“, bekannte Melle, der auch verriet, weshalb die zahlreichen komischen Elemente seines Buchs so bedeutend sind: „Das ist ein Humor wie ein Übersprungslachen. Das Gemachte ist sehr wichtig, auch für den Leser. Ich habe von Anfang an nicht künstlerautistisch gedacht, sondern den Dialog mit einem abstrakten Du gesucht.“

Leichter hatte es Kegel auch nicht im Gespräch mit dem oberösterreichischen Autor Reinhard Kaiser-Mühlecker. Erst gegen Ende der Runde fand sie die richtigen Fragen, um Kaiser-Mühlecker persönliche Bekenntnisse zu entlocken. „Ich bin kein Makroplaner. Beim Schreiben will ich einen Raum erkunden, Schritt für Schritt im eigenen Tempo.“ Kegels vorherigen Anläufen, Kaiser-Mühleckers Roman zu charakterisieren („Figuren mit eigentümliche Last“, „ein unbehauster Ort“, „keine dörfliche Idylle“), erteilte der Autor höfliche Absagen. „Man kann sich nicht aussuchen, worüber man schreibt. Meine Figuren beschäftigt ihre Herkunft“, so der Autor über „Fremde Seele, dunkler Wald“ (S. Fischer).

Um dunkle Abgründe ging es auch bei Eva Schmidt und ihrem Erzählreigen „Ein langes Jahr“ (Jung und Jung). Die einzige Autorin auf der Shortlist ist mit einem Buch nominiert, das – ebenso wie Kirchhoffs Novelle und Melles fiktionalisierte Geschichte seiner Krankheit - kein klassischer Roman ist. 38 Episoden in einer nicht näher benannten Stadt erzählt Schmidt, die Erzählfäden des Personals verstricken sich. Sie ist die zweite österreichische Stimme auf der Liste, Moderator Gert Scobel (3sat) verwickelte sie nicht zuletzt durch persönliche Bekenntnisse („Ich lese immer erst den rechten Klappentext über den Autor“, „Ich habe selbst jahrelang einen Hund gehalten und Sie haben ganz sicher mehr als einen Hund gehabt, oder?“) in ein sehr unterhaltsames Gespräch mit herrlichem Schlagabtausch und Kabbeleien:„Sie führen mich als Leser schon aufs Glatteis“, frotzelte Scobel. Schmidt konterte: „Vielleicht muss man das Buch zweimal lesen.“ 19 Jahre lang hatte die Autorin kein Buch veröffentlicht, aus privaten Gründen, wie sie verriet. „Irgendwann waren wir eine Familie mit vielen Kindern.“ Manche Autoren schrieben aus Lust, wie Schmidt darlegte, nicht aber sie: „Für mich ist es verausgabend.“

Etwas akademisch blieb indes das Gespräch zwischen Alf Mentzer (hr2-kultur) und Nachwuchsautor Philipp Winkler (Jahrgang 1986). Fünf Jahre hat Winkler an seinem Romandebüt (Aufbau Verlag) gearbeitet, das in der Hooligan-Szene angesiedelt ist. Doch der Auftritt in Camouflage mit knackenden Fingerknöcheln zum Gesprächsbeginn wirkte angesichts der rhetorischen Frage „Haben Sie selbst zur Hooligan-Szene gehört?“ gleich doppelt staffagenhaft – dem Großteil des Publikums dürfte längst bekannt sein, was der Hildesheimer Literaturstudent bereits in vielen Interviews zum Stoff verraten hatte, aus dem der Roman „Hool“ entstanden ist. Einen begabten Akademiker zum "enfant terrible" stilisieren zu wollen, das wirkte wenig glaubhaft. Wie Winkler im extremen Milieu recherchiert hat, wäre interessanter zu erfragen gewesen, als ihn über die Unterschiede zwischen „Ultras“ und „Hools“ schwadronieren zu lassen und die Frage zu erörtern, wie viel Fanliebe in diesen Lagern zu finden ist, um schließlich beim Problem „der Balance zwischen Idiom und Literarizität“ zu landen. Der kraftvollen Lesung aus „Hool“ tat das aber keinen Abbruch – unter großem Applaus wurde die Pause eingeläutet.

Als erstes Buch am Abend war André Kubiczeks beschwingter Jugendroman „Skizze eines Sommers“ (Rowohlt Berlin) besprochen worden. Da wehte ein Hauch „Tschick“ durchs Literaturhaus, als Kubiczek verriet, er habe den Roman „wie in einem Rausch innerhalb von vier Monaten“ zu Papier gebracht. Leitmotiv sind die verlorenen, perfekten Momente der Pubertät, Kubiczek griff beim Verfassen des Buchs unverhohlen in die Schatzkiste seiner eigenen Jugend in Ostdeutschland zurück, und so sprang das Gespräch zwischen Gert Scobel und André Kubiczek hin und her zwischen „dekadenter Literatur“ und „Midlife-Crisis“, dem richtigen Soundtrack beim Lesen und süßsaurer Melancholie; das war kurzweilig, emotional und lehrreich - und machte vor allem Lust aufs Lesen.

Und genau damit war die Intention des Abends und des Deutschen Buchpreises überhaupt erfüllt, wie Börsenvereins-Hauptgeschäftsführer Alexander Skipis in seinem Grußwort vorweggenommen hatte. Die „Ungeheuerlichkeit“, sechs Romane auf eine Shortlist zu setzen und am Ende zu behaupten, „den besten deutschsprachigen Roman der Saison“ zu prämieren, verfolge nicht in erster Linie den Zweck, Bestseller zu generieren: „Wir wollen der deutschsprachigen Romanliteratur Geltung verschaffen“, wie Skipis betonte.

Der Deutschen Buchpreis 2016 ist mit einem Preisgeld von 25.000 Euro dotiert; die fünf Finalisten erhalten jeweils 2.500 Euro. Die Preisverleihung findet am Abend des 17. Oktobers zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse im Kaisersaal des Frankfurter Römers statt. 

Sendetermine

Wer die Veranstaltung nachhören oder -schauen möchte: hr2-Kultur sendet vom 10. bis zum 15. Oktober um 9:30 Uhr und um 15.05 Uhr einen Beitrag "Die Autoren der Shortlist - Deutscher Buchpreis 2016". Im TV ist ein Beitrag am 4. Oktober um 19:20 Uhr in der 3sat Kulturzeit zu sehen.

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