Friedenspreis für Swetlana Alexijewitsch

"Archäologin der kommunistischen Lebenswelt"

27. Februar 2015
von Börsenblatt
Ob Tschernobyl oder der sowjetische Afghanistan-Krieg: Die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch hört den Menschen in ihrer Heimat zu, die verstummt sind - oder stumm gemacht wurden. Die Stimmen, die sie aufzeichnet, rückte sie am heutigen Sonntag auch in den Mittelpunkt ihrer anrührenden Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche. Schon die Anrede der Festgäste aus Politik und Buchwelt war ungewöhnlich.

Als "liebe Nachbarn in der Zeit" sprach Alexijewitsch das Publikum an, denn: "Wir haben nicht nur die gleichen Smartphones in der Tasche, uns eint mehr – die gleichen Ängste und Illusionen, die gleichen Verlockungen und Enttäuschungen. Es erschreckt uns alle, dass das Böse immer raffinierter und unbegreiflicher wird. Wir können nicht mehr wie die Helden Tschechows ausrufen, in hundert Jahren würde der Himmel voller Diamanten und der Mensch wunderbar sein. Wir wissen nicht, wie der Mensch sein wird."

Swetlana Alexijewitsch, 1948 im westukrainischen Stanislaw (heute Iwano-Frankowsk) geboren, arbeitete nach einem Journalistik-Studium zunächst als Lehrerin, später als Korrespondentin für das Literaturmagazin "Neman". In ihren eigenen Werken entwickelte sie eine literarische Methode, die "eine größtmögliche Annäherung an das wahre Leben" erlaubt - eine Collage des täglichen Lebens aus vielen Einzelschicksalen und Interviews.

Ein solcher "Roman der Stimmen" ist auch ihr jüngstes, im September erschienenes Buch "Second-Hand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus" (Hanser Berlin, September 2013). Fünf Bücher habe sie bislang geschrieben, so die Friedenspreisträgerin - "doch im Grunde schreibe ich nun seit fast vierzig Jahren an einem einzigen Buch. An einer russisch-sowjetischen Chronik." Revolution, Gulag, Krieg, Tschernobyl, der Untergang der Sowjetunion: "Hinter uns liegen ein Meer von Blut und ein gewaltiges Brudergrab."

In ihren Büchern, sagte Alexijewitsch, rede der kleine Mann von sich: "Das Sandkorn der Geschichte. Er wird nie gefragt, er verschwindet spurlos, er nimmt seine Geheimnisse mit ins Grab. Ich gehe zu denen, die keine Stimme haben. Ich höre ihnen zu, höre sie an, belausche sie. Die Straße ist für mich ein Chor, eine Sinfonie. Es ist unendlich schade, wie vieles ins Nichts gesagt, geflüstert, geschrien wird. Nur einen kurzen Augenblick lang existiert." Die Gesichter würden nach und nach aus ihrer Erinnerung verschwinden - die Stimmen aber bleiben. "Sie sind in mir... verfolgen mich..."

Ein Greis, der noch Stalin gesehen hat, eine junge Afghanin mit einem vom Krieg verstümmelten Kind auf dem Arm: Die Dankesrede widmete die Friedenspreisträgerin den Menschen, über die sie schreibt. Ein Chor von Stimmen, auch in der Paulskirche. Denn: "Genau dort, in der warmen menschlichen Stimme, in der lebendigen Widerspiegelung der Vergangenheit, verbirgt sich die ursprüngliche Freude und offenbart sich die unabwendbare Tragik des Lebens".

Alles wiederhole sich, so Swetlana Alexijewitsch: "In Russland … in meinem kleinen Weißrussland gehen Tausende junge Leute erneut auf die Straße. Sitzen im Gefängnis. Und reden über die Freiheit". Vor der Revolution von 1917 habe der russische Schriftsteller Alexander Grin geschrieben: "Die Zukunft ist nicht mehr an ihrem Platz." Auch jetzt sei die Zukunft nicht mehr an ihrem Platz. "Manchmal frage ich mich, warum ich immer wieder in die Hölle hinabgestiegen bin", sagte die Friedenspreisträgerin, die so auch ihre Rede überschrieben hatte. "Um den Menschen zu finden …"

Für ihren Laudator, den Historiker Karl Schlögel, ist die Friedenspreisträgerin 2013 eine "Archäologin der kommunistischen Lebenswelt", die zugleich ihre eigene sei. "Sie erzählt von ihrer Heimat, aber vor allem davon, wozu Menschen fähig sind – im Guten wie im Bösen". Alexijewitsch habe eine weit über die russischsprachige Welt hinausreichende Leserschaft gefunden, "nur in ihrer eigenen Heimat werden ihre Bücher nicht gedruckt. Alexander Lukaschenka, der Belarus autoritär, ja diktatorisch regiert, duldet keine unabhängigen Stimmen neben sich."

Swetlana Alexijewitsch lasse den Leser nicht im Unklaren darüber, dass der Wandel in einem Land, das erschöpft und traumatisiert sei von so viel geschichtlichem Unglück, nicht von heute auf morgen komme, so der Laudator: "Aber er wird kommen, wenn es gelingt, die ewige Wiederkehr der Gewalt zu durchbrechen, wenn es gelingt, das Gespräch immer wieder in Gang zu setzen und in Gang zu halten, im Rhythmus der Swetlana Alexijewitsch: zuhörend, innehaltend, ohne Illusionen, aber mit jener Nachsicht, die Menschen eigen ist, die in finsteren Zeiten groß geworden sind. Diese Arbeit, die nun schon ein ganzes Leben umfasst, ist eines Friedenspreises, des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, wahrhaft würdig."

Börsenvereins-Vosteher Gottfried Honnefelder sagte in seinem Grußwort, das Werk der Schriftstellerin lese sich "wie ein über drei Jahrzehnte dauerndes Gespräch mit den Stummgemachten und Verstummten". Es sei ein Werk, das sich einer unerschrockenen Zuwendung zu den Übersehenen und Vergessenen und einem unendlichen Zuhören verdanke. "Swetlana Alexijewitsch hat es gegen Widerstände und Publikationsverbote erschreiben müssen als eine Chronistin, die sich nicht in die ihr vergönnten Auslandsaufenthaltezurückgezogen hat, sondern die wieder in ihre Heimat nach Minsk zurückgekehrt ist".

Mit einer Bitte an die Preisträgerin schloss Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann seine Ansprache: "Nehmen Sie den heutigen Zuspruch und die Anerkennung mit nach Weißrussland und berichten Sie den Menschen, dass sie viele Unterstützer haben. Berichten Sie von diesem ehrwürdigen Ort, der Paulskirche, wo vor 165 Jahren die Demokratie in Deutschland ihre ersten Gehversuche unternahm. Auch dieser Weg war steinig und lang, aber er war erfolgreich."