Gastspiel

Gierig auf den Untergang

6. September 2012
von Börsenblatt
Der Herbst der Krisenromane. Rainer Moritz, Leiter des Literaturhauses Hamburg, über den neuen Realismus.

Als Martin Walser vor ein paar Jahren seinen Roman "Angstblüte" veröffentlichte und seinen nicht mehr ganz jungen Helden Karl von Kahn mit allerhand Aktien handeln ließ, beklagte er in Interviews, dass sich deutsche Schriftsteller viel zu wenig für das ökonomische Fundament unserer Gesellschaft interessierten. Und recht hatte Walser damit, denn addiert man jene Romane der letzten Jahre, in denen das kapitalistische Wirtschaften nicht nur in Bausch und Bogen à la Jelinek verdammt, sondern substanziell beschrieben wird, so ist die Ernte dürftig.

Gewiss, da gibt es den Ex-­Unternehmer Ernst-Wilhelm Händler, der nicht nur Studienräte, Buchhändlerinnen oder Paartherapeuten zu seinen Akteuren macht. Da gab es Burkhard Spinnen, der in "Der schwarze Grat" ein schwäbisches Unternehmerleben nachzeichnete, und da lobte man Kristof Magnussons Roman "Das war ich nicht", in dem ein Jungbanker per Knopfdruck ein paar Millionen in den Sand setzt. Erst in diesem Herbst jedoch scheint es so, als würde die Literatur auf die längst unübersichtlich gewordene Anhäufung von Finanz(markt-)krisen reagieren und Szenarien entwickeln, die uns die auf den ersten Blick so schöne Welt von Topmanagern und Vorstandsvorsitzenden nahebringt.

Sibylle Berg zum Beispiel, die gemeinhin eher das anthropologisch grundsätzlich Verwerfliche im Blick hat, lässt in "Vielen Dank für das Leben" einen Wertpapierhändler namens Kasimir agieren, der es nicht verkraftet, dass sein alter Kinderheimgefährte Toto seine üblen Kreise stört und das ungetrübt Gute verkörpert. Über die reale Finanzwelt erfährt man bei Frau Berg indes herzlich wenig, über den nahenden Untergang des Kapitalismus eher Allgemeines, und dass es mit Toto nicht gut endet, versteht sich von selbst.

Genauer hat sich da Rainald Goetz in die Materie eingearbeitet, genauer: in den Kosmos der unter anderem in Ostthüringen agierenden Firmengruppe Assperg. Deren Vorstandsvorsitzender Johann Holtrop gibt Goetz’ Roman seinen Titel und ist ein Musterexemplar jener "Gier", die Kapitalismuskritiker Goetz schon auf der ersten Seite als prägendes Element unserer Niedergangs­gesellschaft ausmacht. Was auf den Seiten danach kommt, ist nicht viel, allenfalls eine Ansammlung charakterlich defekter Wirtschaftsführer – Freunde des Schlüsselromans und Feinde Thomas Middelhoffs kommen auf ihre Kosten – und Banker, die kein gutes Ende nehmen … wer hätte es gedacht? Immerhin bereichert der Autor den deutschen Adjektivfundus, etwa mit seiner Wendung "vom drüberen Tisch".

Wer sich durch Goetz’ Sprachwust durchgearbeitet hat, freut sich fast schon, John Lanchesters Roman "Kapital" zu lesen, der zwar auch Gut und Böse treff­sicher zu unterscheiden weiß und Banker Roger Yount vergebens auf dicke Boni hoffen lässt, aber in seiner Dickens’schen Breite, die von einer einzigen Londoner Straße ausgeht, strahlt dieser Roman eine gewisse Gemütlichkeit aus.

Das alles ist nur der Anfang. Die nächsten Eurokrisendramen kommen bestimmt, und vielleicht findet sich ja bald ein Journalist oder Verlagsleiter, der unter Pseudonym darüber schreibt, wie Buchhandelsketten die Luft ausgeht und deren Manager von Bergen unverkäuflicher Finanzmarktkrisenepen erschlagen werden. Wer diesen Stapeln wohl einen Schubs gegeben hat? Eigentlich ein schönes Krimimotiv.