Gutes Benehmen

Schlag nach bei Knigge

17. Oktober 2016
von Sabine Schmidt
Höflichkeit und Tischmanieren mag zwar im Alltag so mancher bei seinen Mitmenschen vermissen. Ganz aus der Mode scheint beides aber nicht zu sein: Denn Benimmbücher und Kulturgeschichten rund um den tadellosen Auftritt sind en vogue. 

Die berühmte Madeleine, die Marcel Prousts Ich-Erzähler in einen Löffel mit Tee legt, ist eine Steilvorlage, um über Manieren zu diskutieren: Wer jene Passage über das Glücksgefühl aus Prousts Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« zitieren kann, wähnt sich auf der gesellschaftlich richtigen Seite. Nur eine Frage bleibt dabei in der Regel außen vor: Schickte es sich überhaupt, das Gebäck in den Tee zu tunken? Und wie reagieren die Mitmenschen im 21. Jahrhundert, wenn man Gebäck ins Getränk tunkt? 

Solche Fragen sind durchaus wieder interessant; immer neue Bücher zum richtigen Verhalten kommen auf den Markt. Und viele davon tragen den Namen des vermeintlichen Erfinders dieser Art von Ratgeberliteratur im ­Titel. Allerdings stammen »die detaillierten Benimmregeln, die man landläufig mit dem Namen Knigge verbindet, die gehobenen Tischsitten und Kleidungsvorschriften« nicht vom Freiherrn selbst, sondern von denen, die seinen Text posthum bearbeitet haben. Das jedenfalls erklärt die Schriftstellerin Marion ­Poschmann den Lesern von heute.

In ihrer Auswahl des Originaltextes »Über den Umgang mit Menschen« kann man nachlesen, was Adolph Freiherr von Knigge 1788, auf dem Höhepunkt der Aufklärung, tatsächlich veröffentlicht hat (Insel, 142 S., 13,95 Euro). Sein Bestseller ist die Analyse einer Welt, in der nicht die Klügsten, die moralisch Integren und Kreativen weiterkamen, sondern die, die Verbindungen hatten oder sich gut verkaufen konnten. ­Knigge gibt Anregungen, wie man sich klug und höflich ­verhält, um ebenfalls sozial und beruflich erfolgreich sein zu können. Der Text sei auf der Höhe unserer Zeit, betont Poschmann: »Das Anliegen Knigges, mittels sozialer Intelligenz einen Platz in einer Gesellschaft zu erringen, die diesen Platz von sich aus nicht einräumt, ist heute ebenso virulent wie damals.«

Überhaupt nicht verstaubt findet auch Max Scharnigg das Anliegen des Freiherrn und gibt seinem »Handbuch für gute Manieren im Netz« den Titel »Herrn Knigge gefällt das!« (Atlantik, 240 S., 15 Euro). Der ­Redakteur der »Süddeutschen Zeitung« will mit seinem unterhaltsamen Buch kein Regelkorsett aufstellen, aber Hilfestellung für das Verhalten im Internet ­geben – für die vielen Entscheidungen, die man laufend auf Facebook oder Twitter treffen muss. Etwa: Muss ich alles liken, wenn ich dazu aufgefordert werde? Und muss ich wirklich zu allem meinen (Betroffenheits-)Senf dazugeben? 

Geflügel nicht mit der Hand  Klare Regeln im Sinn der Knigge-Nachfahren vermittelt Silke Schneider-Flaig – nicht nur fürs Internet, sondern für fast alle Lebenslagen. In ihrem detaillierten Ratgeber »Der neue große Knigge« fordert sie zu den »richtigen Umgangsformen privat und im Beruf« auf (Compact, 352 S., 14,99 Euro). Ob man nun Gebäck in den Tee tauchen darf, erfährt man zwar nicht. Dafür gibt es Hinweise zu Espresso & Co.: »Bei Getränken, die man in Tassen serviert, sollte der kleine Finger niemals vom Henkel abgespreizt werden. Das gilt als peinlicher Fehler.« 

Einen ähnlich praktischen, wenn auch ­etwas knapperen Ansatz verfolgt Barbara Kleber mit ihrem »Knigge für jeden Tag«, in dem sie »richtiges Benehmen« und »zeit­gemäße Umgangsformen« erklärt. In dem Ratgeber mit Checklisten erfährt man, dass Business-Hemden auch bei schönstem ­Sommerwetter langärmelig sind und man Spareribs zwar mit der Hand essen darf – Geflügel aber keinesfalls (Humboldt, 280 S., 19,99 Euro).

Was sonst noch rund um das Thema Speisen bemerkenswert ist, kann man bei Alexandre Balthazar Laurent Grimod de la Reynière nachlesen: Sei es die Tischordnung oder die Konversation. Weil es Menschen geben soll, denen dieser Exzentriker nicht bekannt ist, stellt Fernsehkoch Vincent Klink ihn und seine außergewöhnliche Lebensgeschichte vor – in seiner Einleitung zu dem Buch »Grundzüge des gastronomischen Anstands« (Rowohlt, 224 S., 19,95 Euro). 1758 kam Grimod in Paris mit verkümmerten Gliedmaßen zur Welt. »Seine kurzen Armstummel endeten in Krallen, die an einen jungen Hahn ­erinnerten«, erklärt Klink. Mit diesem Kind wollte seine reiche Familie möglichst nichts zu tun haben. Der Vater ließ aber ­immerhin Metallhände fertigen. Sie bereiteten dem Jungen ­Höllenqualen, ermöglichten es ihm aber auch, zu zeichnen, zu schreiben und zu tranchieren. Später gab Grimod skurrile Gastmähler, bei denen man an Särgen ­speiste, er war Gastronomiekritiker, Herausgeber eines Magazins für Feinschmecker und Autor zahlreicher Werke zu kulinarischen Themen. Der Band gibt eine Kostprobe seiner natürlich altmodisch anmutenden, aber geschliffenen Schriften über Regelwerke für Gastgeber und Gäste.

Über das Verhalten bei Tisch schreibt ­Salka Schwarz in ihrem Buch »Stil. Genuss beim Essen« (Nikol, 152 S., 6,99 Euro). Die Etikette-Trainerin widmet sich weniger dem Besteck als dem Umgang miteinander – der wahre, der unverfälschte Knigge ist dann auch eine ihrer Bezugspunkte. ­Worum geht es bei Geschäftsessen und wie verhält man sich? Darf eine Frau ein Dinner bezahlen, wenn sie eingeladen hat? Ja, natürlich, ist die Antwort. Wenn ein Herr der alten Schule dabei ist, sollte sie seine wenig zeitgemäße Art des Umgangs höflich zulassen und dabei dennoch diejenige sein, die alle Fäden in der Hand hält.

Messerhelden und Radau-Esser  
Wer tiefer in die Anstandswelten des höflichen Gasts eintauchen will, kann das tun mit den »Etikette-Plaudereien« von Eustachius Graf ­Pilati von Thassul zu Daxberg. Er selbst hätte sich wohl ohne »von« und »zu« vorgestellt, denn die schlichte Form war zu Beginn des 20. Jahrhunderts en vogue. Die nachlesenswerten Kolumnen des Grafen, die in der Berliner ­Tageszeitung »Deutsche Warte« erschienen sind und jetzt von Rainer Erlinger als »Klassiker unter den Benimmbüchern« neu herausgegeben wurden (Fischer Taschenbuch, November, 249 S., 12 Euro), kommentieren kenntnisreich Problemfelder wie »Radau-­Esser«, »Messerhelden«, »Kinder und Hunde in Lokalen« und »schwülstige Ausdrucksformen«. Es lohnt sich, seine Empfehlungen auch heute zu beherzigen – etwa, nicht unverständlich vor sich hinzumurmeln, wenn man sich vorstellt oder sich niemals einer Dame aufzudrängen.

Den Vortritt sollte man ihr jedenfalls immer lassen: Das ­betont Ari Turunen schon im Titel seines neuen Buchs: »Bitte nach Ihnen, Madame« (Nagel & Kimche, 208 S., 20 Euro). ­Allerdings will der Finne mit seinem klugen, ironischen Text nicht unbedingt erklären, wie man sich auf gesellschaftlichem Parkett angemessen verhält. Seine »kurze Geschichte des guten Benehmens« soll vielmehr dazu anregen, über Umgangsformen nachzudenken. Etwa darüber, was es bedeutet, wenn jemand tadellos gekleidet ist und sich bei Tisch perfekt zu benehmen weiß – sein Verhalten aber in moralischer Hinsicht nicht einwandfrei ist. Als Beispiele nennt der Autor Dominique Strauss-Kahn oder Silvio Berlusconi.  Denn der Idealfall wäre, hier sind sich die Autoren weitgehend einig, dass inneres und äußeres Bild zusammenpassen und dass hinter geschliffenen Umgangsformen ein höflicher, kultivierter Geist steht. Gern ­einer, der Proust kennt und souverän mit Gebäck und Tee umzugehen weiß.