Interview mit Hanser-Verleger Jo Lendle

"Da stand kurz das Tor zur Hölle offen"

27. April 2017
von Börsenblatt
Preisschwellen überschreiten, den Absatz der Bücher stabil halten, bei Auktionen keine unkalkulierbaren Risiken eingehen, dem Buchhandel viel zutrauen – Hanser-Verleger Jo Lendle über Pläne und Taten.

Was halten Sie von Interviews?
Als Verleger muss man an und für sich nicht viel reden. Da reden besser die Bücher. Aber natürlich gibt es Themen, zu denen sich die Bücher eher vernuschelt äußern.

Teilen Sie den Eindruck, dass das Reden über Inhalte verlegerischer Arbeit gerade stark verdeckt wird von der Klage über unverständige Politik?
Das ist wohl so. Dabei fordert uns die Zeit in einer Weise heraus wie lange nicht mehr: Wann will man in einem Verlag arbeiten, wenn nicht jetzt? Bei Hanser wenden wir uns in diesem Jahr mit besonderer Inbrunst dem Sachbuch zu. Wenn Fundamente unseres Denkens und unserer Selbstverständigung infrage gestellt werden, schlägt die Stunde der Sach­bücher. Philipp Blom schreibt ein Buch für den Herbst – wie blickt ein Historiker auf den Populismus, der gerade die liberalen Hoffnungen in vielen Ländern angreift? Cathy O'Neil war lange Hedgefondsmanagerin und deckt jetzt in einem Buch auf, wie Algorithmen unsere Wirklichkeit beeinflussen, einschließlich der Wahlen.

Wenn man sich die Wahlbeteiligungen zuletzt anschaut, sollte man meinen, die politische Mitte wird wieder wach – auch ein Indiz für neuen Sachbuchbedarf?
Ich vermute, dass die Erregung der Verleger das Interesse des Publikums am Ende doch wieder überflügeln wird. Wir sehen jetzt natürlich überall Themen herumliegen. Andererseits glaube ich schon an ein gesteigertes Interesse an fundierter Information – nehmen Sie nur das Beispiel der Washington Post, die 50 zusätzliche Redakteure eingestellt hat. Die Qualitätszeitungen an der US-Ostküste legen im Abonnement erheblich zu. Wir haben zwar in Deutschland in den vergangenen Jahren auch gesehen, dass man mit populistischen Büchern in der Breite viele Freunde findet. Unsere Aufgabe sehe ich eher anderswo. Wir haben Bedarf an Hintergründen, an Denkherausforderungen.

Hanser steht bisher nicht in erster Linie für Sachbücher.
Das stimmt. Wir werden immer wahrgenommen als Literaturverlag, der auch Sachbuch macht. Es ist ja in Ordnung, dass die Fiktion die Realien bisweilen überstrahlt. Aber für unser Sachbuchprogramm haben wir jetzt so kühne Pläne, dass wir es herausführen wollen aus diesem Anhängsel-Dasein.

Nur in der Kommunikation oder auch organisatorisch?
Wir haben zunächst eine gemeinsame Sachbuchvorschau eingerichtet für die verschiedenen Verlagsteile. Und wir haben im vergangenen Jahr die Münchner Lektorate zusammengefügt, sodass hier keine Einzelkämpfer mehr arbeiten, sondern eine gemeinsame Abteilung aus sieben Sachbuchlektoren und Assistenten. Zusätzlich haben wir in allen Bereichen des Verlags jeweils Zuständigkeiten und Verantwortungen neu definiert für das Wohlergehen des Sachbuchs.

Werden Sie das Volumen Ihres Sachbuchprogramms steigern?
Wir steigern es vorsichtig. Wichtiger als die Titelzahl ist uns, die Intensität der Arbeit fürs Sachbuch zu steigern. Von München aus planen wir etwa 32 Sachbücher pro Jahr. Das ist nicht viel mehr als früher.

Spielt die neue politische Ernsthaftigkeit auch für die Belletristik eine Rolle?
Literatur muss nicht nach Aktualität heischen. Sie ist fürs ganze Leben da, nicht für die nächste Minute. Nur gibt es natürlich bei den Manuskripten immer wieder das Phänomen, dass einen gerade jetzt etwas besonders anspricht, weil darin ein Thema behandelt wird, das gegenwärtig besonders wichtig ist.

Haben Sie Beispiele?
Als wir im Verlag Abbas Khiders Manuskript "Ohrfeige" gelesen haben, in dem er in Romanform das Warten eines Flüchtlings auf eine Entscheidung schildert, die nicht kommt, war uns selbst­verständlich bewusst, dass eine solche Situation gerade akut ist, obwohl die Romanhandlung einige Jahre zurückliegt. Oder das Debüt von Fatma Aydemir, "Ellbogen": Plötzlich wird es vor dem Hintergrund der Eskalation in der Türkei zu einem Buch der Stunde; aber zunächst war es einfach ein Roman, der einer jungen, wilden deutschtürkischen Heldin eine Stimme gibt.

Warum geraten Verlage in der Politik derzeit so ins Hintertreffen?
Das mag damit zu tun haben, dass Verlage ihren Beitrag zu Büchern oder Autorenkarrieren nur selten sichtbar machen – was ich eigentlich ganz richtig finde. Verlage sind nicht vergleichbar etwa mit einem Theater, das ganz anders als gestaltende Institution hervortritt. Wir haben die Autoren, für deren Sichtbarkeit wir arbeiten. Aber in Zeiten wie diesen, wo die Rolle der Verlage so fundamental infrage gestellt wird, denkt man schon darüber nach, ob man nicht anders auftreten sollte.

Sind nicht Hanser, Suhrkamp, Diogenes auch Institutionen?
Absolut. Ich sehe natürlich, was für ein gewaltiger Resonanzraum ein Verlag wie Hanser ist; dass man die Manuskripte an diesen Klangkörper halten kann und es gibt einen guten, lauten Ton. Aber viele Feinheiten, die wir sehen, sehen nur wir als Insider der Branche. Es gibt den großen, schönen Teich, in dem wir alle schwimmen und in dem die Inseln Verlagsnamen tragen. Die Leute, die am Ufer stehen, sagen allerdings nur: Das ist ein schöner See, da will ich baden. Um die Namensschilder kümmern sie sich nicht. Die Mehrheit der Buchkäufer redet einfach über Bücher und Autoren, und das ist völlig in Ordnung so.

Die "gesellschaftliche Formation der Lesenden", wie Thomas Hettche den Kern des Literaturbetriebs einmal genannt hat, schrumpft. Macht Ihnen das Sorgen?
Ich habe das Gefühl, diese Formation ist nach wie vor stabil. Fragt sich natürlich in unserem Wirtschaftssystem, ob Stabilität genügt …

… Stabilität ist das neue Wachstum.
Ich verfolge intensiv die Verschiebungen innerhalb der verschiedenen Auftrittsformen, jetzt gerade das Wiedererstarken des empfehlenden Buchhandels. Das ist für uns essenziell wichtig. Wir merken das stark, weil wir so viele Bücher machen, die begleitet werden wollen und nicht einfach nur daliegen. Gleichzeitig muss ich sagen: Wir haben 2016 im Literaturverlag fast aufs Exemplar genauso viele Bücher verkauft wie im Vorjahr, nämlich 2.160.000. Nennt man das nun Stagnation oder nennt man es Stabilität? – Ich sage, das ist Stabilität. Übrigens haben wir trotzdem eine Million Euro mehr Umsatz gemacht, weil die Bücher teurer waren.

Wie sieht Ihre Preisstrategie aus?
Wir machen jeden Preis glatt, und zwar ohne dass irgendjemand sich darüber gewundert hat. Und wir gehen über Preisschwellen. Diese schmale Vorstellung, ein Buch koste am besten immer 20 Euro, ist ein großes Missverständnis. Wir machen in jedem Programm ein ganz besonderes Buch. Zum ersten Mal haben wir das mit Raoul Schrotts "Erste Erde" unternommen, einem Vers­epos, das, grob gesagt, erzählt, was in der Zeitspanne zwischen Urknall und heute Vormittag passiert ist – ebenso anregend wie erhellend. Das Buch haben wir ausgestattet, wie es sich für ein einmaliges Werk gehört – wir sind mit einem Verkaufspreis von 45 Euro in die Vertretersitzung gegangen, als wir wieder raus­kamen, war das Buch doppelt so schön und kostete 68 Euro. Inzwischen haben wir eine gut fünfstellige Auflage verkauft und es stand mal wieder ein Gedichtband auf der Bestsellerliste. So eine ermutigende Erfahrung zeigt: Es gibt nicht nur die 20-Euro-Leser, es gibt auch viele mit einem Sinn für Ausnahmebücher.

Wohin geht es mit dem stationären Buchhandel in ­Deutschland? Amazons Wachstumsraten sind ja nach wie vor beängstigend hoch.
Ich bin seit 20 Jahren in der Buchbranche und habe von meinen mittlerweile 40 Vertretersitzungen keine erlebt, wo nicht am Anfang gesagt wurde: Es sind schon wieder weniger geworden. Irgendwann kann der Mensch nicht anders, als zu sagen: Na ja, aber wir leben noch, wir lesen noch. Das Buch verliert nicht an Wert. In diesem Frühjahr sind wir mit einer Hanya Yanagihara herausgekommen, die eben noch kein Mensch kannte, und das Land redet über ein Buch. Gerade dieser Roman ist extrem aus dem unabhängigen Sortiment heraus entstanden, weil die einzelnen Buchhändler über ein Leseerlebnis, wie sie es zum Teil offenbar über Jahre nicht mehr hatten, mit ihren Kunden sprechen wollten. Ich neige, was die Zukunft des stationären Sortiments angeht, jedenfalls nicht zur Panik. Diese Struktur ist nach wie vor sehr vital. Wir stellen fest: Lesen ist eine hart­näckige Lust. Deshalb täte es uns gut, aus der Defensive herauszukommen.


Das haben die Zeitungshäuser in den letzten zwei Jahrzehnten auch immer gesagt – mit übersichtlichem Erfolg.
Ein Unterschied ist, dass Buchverlage ein Monetarisierungs­modell für Digitales haben. Die Zeitungsverlage versuchen gerade mühsam, dieses Kind wieder aus dem Brunnen zu holen. Und Zeitungslektüre ist deutlich gestückelter als ein Buch, das liest sich leichter auf dem Telefon. Also versuche ich, unser Pfeifen im Walde mal als hoffnungsfrohe Melodie zu hören.

Sie sind nicht nur Verleger, sondern auch Schriftsteller. Wenn es verlegerisch irgendwann zu eng werden sollte, wären Sie immer noch Schriftsteller.
So denke und empfinde ich nicht. Hanser ist ein großer Laden. Meine formale Berufsbezeichnung lautet Verlegerischer Geschäftsführer. Das markiert beide Seiten der Aufgabe. Um das Verlegerische mache ich mir hier keine Sorgen, wir werden immer großartige Bücher finden. Die geschäftsführerische Seite ist naturgemäß weniger gewiss. Extrem wichtig in diesem Beruf ist die Fähigkeit, sich wieder hinzustellen, wenn einen mal etwas touchiert. Das eigene Schreiben, zu dem ich derzeit seltener komme als gewünscht, bleibt mir schon deshalb wichtig, weil es Dinge relativiert. Das ist mir in einem Beruf, in dem man eher dazu neigt, alles mit der Totalität des Daseins zu tun, ganz heilsam und hilfreich, wie kleine Luftlöcher, die einen Druck­ausgleich erlauben.

Wenn man mit Verlegern spricht, kommt seit einiger Zeit wie von selbst das Thema Auktionen und Vorschüsse auf den Tisch. Die Wetten werden teurer, riskanter – und platzen immer öfter. Ist das eine Not auch für Hanser?
Es gibt eine äußere Wahrheit, wie Verlage dastehen, und eine innere Wahrheit. Die steht auf der Honorarvorauszahlungs­abschreibungsliste und ist oft relevanter für das Ergebnis eines Jahres als irgendwelche Umsätze. Für uns ist in den letzten Jahren einfach vieles aufgegangen. Früher hat Hanser bei den klassischen New Yorker Auktionen eher nicht mitgemacht. Aber manche der Bücher, die wirklich gut sind und die wir auch bei Hanser wollen und brauchen, werden heute versteigert. Deswegen machen wir bei Auktionen mit.

Zum Teil sind die Verträge trotz der siebenstelligen Summen, die aufgerufen werden, eine Zumutung. Haben Sie Standards, hinter die Sie nie zurückgehen?
In einem einzigen Fall wären wir bereit gewesen, unsere eigenen Standards zu unterlaufen – und da bin ich im Nachhinein heilfroh, dass wir nicht weit genug gegangen sind, den Titel am Ende wirklich zu kriegen. Da stand kurz das Tor zur Hölle offen. Einige Entwicklungen bereiten uns Sorge, zum Beispiel häufen sich die Fälle, wo Verlage keine Auslandsrechte mehr bekommen. Und leider erleben wir zunehmend, dass Agenturen auf der Grundlage von äußerst wenig Material Sachen überaus teuer verkaufen. Das birgt ein hohes Risiko.

Wie behalten Sie im internationalen Angebot den Überblick?
Wir lesen wie wild. Zusätzlich zu den Scouts in London und Paris haben wir nun auch sehr engagierte Scouts in New York, das greift gut ineinander. Und die Agenten wissen, bei Hanser hört das Engagement nicht mit dem Kauf eines Titels auf. Das hilft ebenfalls, aktuell etwa mit Colson Whiteheads Bestseller "Underground Railroad", dessen Agentur damit in der ganzen Welt zu anderen Verlagen gewechselt ist, nur nicht in Deutschland. Mir ist es hier im Haus unter anderem darum gegangen, den Anschluss an die junge amerikanische Literatur wiederherzustellen. Mit Emma Cline, Hanya Yanagihara oder Lauren Groff haben wir heute wichtige neue Stimmen. Umso schöner, dass keine von denen auch nur im Mindesten überzahlt war.