Interview mit Miriam Meckel

"Zustand der mentalen Implosion"

22. September 2011
von Börsenblatt
Was wird aus dem Menschen, wenn der persönliche Algorithmus seines digitalen Zweitlebens die Herrschaft an sich reißt? Miriam Meckel über ihre grell-düstere Schreckensvision »Next«.

Miriam Meckels Buch »Next« ist ein Gedankenexperiment: Es spielt in einer Zukunft, in der die Grenze zwischen digitaler und analoger Welt aufgehoben ist. Mensch und Maschine haben sich im Netz vereinigt. An die Stelle des handelnden Ich tritt der »persönliche Algorithmus«, eine Software, die alle Aktionen des »Users« vorausberechnet – was heute schon ansatzweise möglich ist.

»Next« schildert eine Welt, in der alles ständig verfügbar ist, die aber nur noch ihren Status quo verewigt – eine Welt ohne Zufall. Teil 2 des Buchs schildert das taube Gefühl des »Rest«-Individuums, das mit dem Verlust der menschlichen Wirklichkeit fertig zu werden versucht. Und immer wieder melden sich dabei Erinnerungen an Menschliches – Emotionen, Fantasie, Moral.

 

Während Sie "Next" schrieben – beschlich Sie da manchmal das Gefühl, selbst Teil einer Simulation zu sein?
Ich hatte zumindest gelegentlich die Situation, in meine eigene Erzählung hineingesogen zu werden. Das war beim Algorithmus besonders stark der Fall. Es ist schon sehr schwierig, sich in das "Denken" einer Software hinein zu versetzen und aus der Perspektive konsequent ihre Geschichte zu erzählen. Manchmal bin ich für Stunden abgetaucht, und irgendwann hat mich etwas herausgerissen und ich dachte, huch, was ist denn jetzt passiert.

Ist das Buch in gewisser Weise auch ein Selbstversuch?
Ich lote damit meine Vorstellungsräume aus. Der Selbstversuch müsste Technik zur Hilfe nehmen, um wirklich ausprobieren zu können, wohin die Reise dann geht. Das können wir zum Teil schon, denn viele Techniken, die ich im Buch beschreibe, gibt es ja längst. Aber mir geht es um etwas Anderes. Ich möchte einen "Denkraum" eröffnen, in dem wir uns mit unseren Fragen und möglichen Antworten tummeln können, um etwas Wichtiges herauszufinden: Wenn wir alles so weiterdenken, wie es jetzt schon möglich ist, was ist es dann, das irgendwann noch vom Menschen übrigbleibt?

Im ersten Teil des Buchs schildert der "persönliche Algorithmus" im Triumphton die Machtübernahme des Netzes: die Überwindung des Menschlichen, den Übergang von der Körperzeit zur "Systemzeit", den "Mensch-Maschine-Merger". Wie weit sind wir von diesem Punkt entfernt?
Zum Glück noch ein ganzes Stück. Ich will auch nicht Kulturpessimistin sein, die beschwört, dass alles so kommt, wie ich es beschrieben habe. Aber ich möchte durchaus einen kulturkritischen Blick auf die Entwicklung im Internet, die personalisierte Suche im Netz und die algorithmischen Empfehlungssysteme werfen, damit wir eben unsere Möglichkeiten nutzen und das tun, was Algorithmen nicht können – darüber nachzudenken, was wir wollen und was wir nicht wollen, um dann entsprechend zu entscheiden und zu handeln.

Können die Menschen diese Entwicklung überhaupt noch aufhalten?
Natürlich können wir das! Wir haben doch fast jede Möglichkeit, unser Leben und Denken irgendwo zwischen der analogen und digitalen Welt zu verorten. Aber es wäre sicher auch an der Zeit, sich mal über ein paar politische Forderungen gegenüber den Internetkonzernen zu verständigen. Das findet bei uns leider bislang kaum statt.

"Next" ist ein Gedankenspiel. Ist die Vision des Menschen, der im Netz aufgeht und Teil eines digital-neuronalen Netzwerks wird, nur ein Schreckensszenario oder zugleich eine Zukunftsphantasie, die bei einigen Glückshormone ausschüttet?
Die Vertreter der technologischen Singularität, wie zum Beispiel Ray Kurzweil, brechen ob dieser Perspektiven in Begeisterung aus. Ich denke, es kommt immer darauf an, wie man die Gestaltungsmöglichkeiten betrachtet. Es gibt viele Situationen im Alltag, in denen ich über technische Hilfe froh bin. Ich hätte wahrscheinlich nichts dagegen, wenn ich nervtötende Anrufer schon mit einem kurzen Gedanken blockieren könnte. Wenn ich versuche, all das im Kopf zu behalten, was ich bei meiner Arbeit brauche, stelle ich es mir gelegentlich traumhaft vor, mein Gehirn auf eine Festplatte herunterladen zu können. Nur, die Frage ist ja: Was bedeutet das für uns selbst, wie gehen wir mit diesen Möglichkeiten um? Vor allem aber, wie gehen andere mit diesen Möglichkeiten um? Machen wir uns zu Sklaven von sich selbst verstärkenden Prozessen, die wir einst eigenhändig initiiert haben?
 
Wo sehen Sie selbst als Medienwissenschaftlerin Ihren Ort zwischen diesen beiden Polen?
Ich bin sicher irgendwo zwischen diesen Polen verortet, auch zwischen der analogen und digitalen Welt. Ich gebe offen zu, dass ich ein Techie bin, also offen für alle neuen Geräte, die mir Kommunikation, Kollaboration, Spielereien möglich machen. Deshalb besteht auch die Gefahr, dass ich in einem gewissen Enthusiasmus immer zur überengagierten Nutzerin werde. Meine kommunikationswissenschaftliche Perspektive steht dann gelegentlich wie das schlechte Gewissen der Clementine von Ariel neben mir und sagt mir: Du weißt doch, dass dir das nicht gut tut, also lass' es einfach.

"Next" ist auch ein besonderes Erzählexperiment, meines Wissens in Teil 1 der erste Monolog eines virtuellen Kollektiv-Bewusstseins – das wiederum an der Entschlüsselung des menschlichen Konzepts "Erzählen" scheitert. Da ist wohl auch ein Schuss Ironie im Spiel …
Dieser Widerspruch hat mir die größte Freude beim Schreiben gemacht. Der Algorithmus will das menschliche Erzählen entschlüsseln, aber kommt dabei einfach auf keinen grünen Zweig. Immer wieder findet der Algorithmus Textstellen, die vollkommen unverständlich sind, wenn man in einer rein logisch-strukturellen Analyse an den Text heran geht. Das macht aber eben menschliches Schreiben aus, dass es Interpretationsräume öffnet, die einfach nicht durch Mathematik und Logik zu greifen sind. Das ist kreativ. Und an der Kreativität scheitert der Algorithmus.   

Das Buch ist eine Utopie – nicht in der Tradition von Thomas Morus’ "Utopia" – sondern eher in der Nachfolge der Negativutopien von Orwell und Huxley. Es beschreibt einen ortlosen, körperlosen, synchronen Zustand, in dem alles gegenwärtig und zugleich grenzenlos und entindividualisiert erscheint. Ist das nur Fiktion oder nicht auch eine Extrapolation aller technischen und elektronischen Möglichkeiten, über die wir heute schon verfügen?
Es gibt inzwischen eine Menge an Erfahrungen, was die technischen Möglichkeiten mit Menschen machen können, von Informationsüberlastung, über ADS bis zu Burn-Out und Depression. Damit habe ich meine eigenen Erfahrungen gemacht, aber auch festgestellt, ich bin mit diesen Problemen nicht allein. Vielleicht kann man "Next" auch als Skizze einer Gesellschaft nach dem digitalen Infarkt lesen, wenn also das analoge und digitale Leben wirklich weitreichend verschmolzen sind und wir damit eine wichtige Unterscheidung in unserem Leben verloren haben. Wenn alles immer und überall für uns technisch erreichbar ist, dann ist das ein grauenhafter Zustand der mentalen Implosion. Ich stelle mir dann eine digital erschöpfte Gesellschaft vor, die wie in Trance weiter operiert, ohne sich selbst noch wahrnehmen oder unterscheiden zu können.

"Next" speist sich aus zahlreichen Quellen: Computerkritiker, Netzapologeten, Philosophen, Medienwissenschaftler liefern Stoff und Stichworte für die Handlung. Wird es Zeit, in der breiten Öffentlichkeit eine Debatte über die Gefahren der Digitalisierung zu führen?
Unbedingt. Ich habe das vergangene Jahr im Wesentlichen in den USA an der Harvard University verbracht und da auch sehr viel für das Buch recherchiert. Die Diskussionen sind dort viel weiter, und es gibt eine viel größere Zahl an aktiven Experten, die mit Technik und Internet leben wollen, aber deshalb nicht alles einfach als gegeben hinnehmen. Im deutschsprachigen Raum sind wir so weit zurück, dass ich es manchmal erschreckend finde. Die Diskussion ist notwendig, aber sie ist schwierig in einem eher technophoben Umfeld, in dem technisches Unverständnis bei vielen noch immer als schick gilt.

Gegen Ende des ersten Teils kämpft der persönliche Algorithmus gegen einen Systemabsturz. Störbegriffe wie "Liebe", "Vergessen", "Frei", erscheinen plötzlich im Rechnerhorizont. Hat da der letzte Mensch, der den zweiten Teil der Geschichte erzählt, noch rechtzeitig Sand in das Argumentationsgetriebe gestreut?
So können Sie es lesen. Ich habe es ja bewusst nicht konsequent beantwortet, weder für den Algorithmus noch für den Menschen. In jedem Fall kämpft der Algorithmus mit den menschlichen Überresten, die er den Menschen eigentlich auch in der Systemzeit gönnen wollte. Aber irgendwie lassen sich diese emotionalen Zustände eben nicht in die algorithmische Weltberechnung integrieren. Und das ist vielleicht auch gut so.

Der zweite Teil des Buchs, in dem Gefühle, Tugenden, Existenz, Gott als Erinnerungsspur sichtbar bleiben oder als Phantomschmerz spürbar werden, zeigt immer noch die Differenz zwischen Menschlichem und algorithmischer Totalität. Sind Sie hoffnungsvoll, dass es auch in Zukunft noch eine "condition humaine" geben wird?
Da bin ich sehr zuversichtlich. Es wird allerdings nicht dieselbe Condition Humaine sein, wie wir sie gekannt haben. Aber das ist ja auch das Spannende am Menschen, dass er sich immer weiter entwickelt. Und es ist der Grund, warum ich das Buch geschrieben habe. Ein Gedanke, der in der Welt ist, wird ja nicht zwangsläufig Wirklichkeit, aber er verändert die Wirklichkeit eben ab dem Moment, an dem er zum ersten Mal gedacht wurde.

Interview: Michael Roesler-Graichen

 

Zur Person
Miriam Meckel, geboren 1967, studierte Kommunikations- und Politikwissenschaft, Jura und Sinologie und promovierte über das europäische Fernsehen. Sie war Regierungssprecherin des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, später Staatssekretärin für Europa, Internationales und Medien. Seit 2005 ist sie Professorin an der Universität St. Gallen und leitet dort das Institut für Medien und Kommunikationsmanagement (MCM). 2007 erschien ihr Buch "Das Glück der Unerreichbarkeit. Wege aus der Kommunikationsfalle"; 2010 folgte "Brief an mein Leben. Erfahrungen mit einem Burnout".

Bibliographie
»Next. Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns« von Miriam Meckel ist im Rowohlt Verlag erschienen (320 S., Hardcover, 19,95 Euro; Digitalbuch, ePUB, 16,99 Euro). Das Buch liegt auch als Enriched E-Book in der Reihe Digitalbuch Plus vor – unter anderem mit zwölf eigens produzierten Videos zur Entwicklung der Künstlichen Intelligenz sowie dem Videomitschnitt eines Vortrags der Autorin unter dem Titel "Total Recall - Wie das Internet unser Denken verändert" (19,99 Euro).