Jahrestagung der BücherFrauen 2013

Die gläserne Leserin am Plastiktisch

20. Juli 2015
von Börsenblatt
Kostbare Leserinnendaten, faszinierende Literaturformate, kundenfreundliche Lizenzmodelle − und der Ruf nach mehr Kooperation, Haltung und Mitgestaltung eines Werterahmens. Die Jahrestagung der BücherFrauen − Women in Publishing lieferte eine umfassende Bestandsaufnahme des literarischen (Er)Lebens im digitalen Buchmarkt. Eine Stimmensammlung von Nina George, Autorin und BücherFrau.

Die gute Nachricht zuerst: gelesen wird immer (noch), die Leserin stirbt nicht aus, und gute Geschichten bleiben das Fundament der Branche. Doch die aus dem www entwickelte Technik hat den Buchmarkt, die literarischen Formen, das Verhältnis zwischen Leserin, Autorin und Verlagen durchdrungen. Es rappelt so fundamental wie seit rund 200 Jahren nicht mehr im Bücherkarton.

Unter den 100 Teilnehmerinnen aus allen Bereichen des Publishings, waren die Thesen, Ideen und Fragen zum Thema "Der Wert des geistigen Eigentums im digitalen Zeitalter" (die Jahrestagung fand vom 15. bis 17. November in Hamburg statt) so vielfältig wie die Branche selbst − doch sämtlich geprägt durch pragmatische Neugier, vorsichtigen Optimismus, und dem Wunsch nach Balance zwischen Wirtschaftlichkeit, Kreativität und kulturethischen Maßstäben.

1. Der Wert der kreativen Arbeit bei der Frage: Rechteschutz und Kundenfreundlichkeit − ein Widerspruch?

"Harter" Kopierschutz von E-Books ärgert die Leserin, sowie Systeme, in denen Nutzungsrechte, aber keine Besitzrechte erworben werden. Verlage fürchten Umsatzverlust durch Privatkopien über den familären und freundschaftlichen Gebrauch hinaus.

eLiteratur bedarf für Leserinnen verständliche, und für Büchermenschen wirtschaftlich vorausschauende Lösungen. Bianka Reinhardt (Head of International Business von Books on Demand) stellte Lizenzmodelle für neue Trägermedien vor, Renate Reichstein (Rechte & Lizenzen der Verlagsgruppe Oetinger) erweiterte Nutzungsrechte für den globalen Markt. Doris Janhsen, Verlagsleiterin Oetinger, plädierte für mehr Kooperation unter Verlagen. Weg von der Konkurrenz, hin zu gemeinschaftlichen Angeboten. Auch im Hinblick auf die "Schlange" Amazon. Mein Fazit: Wir wollen Leserinnen vertrauen und DRM in Frage stellen − doch Kundenfreundlichkeit und Bequemlichkeit dürfen nicht als Rechtfertigung für Dumpingpolitik herhalten.

2. Der Wert des "Contents" für Piraterie: Echte LeserInnen klauen nicht. Oder doch?

600 Portale liefern Zugriff auf illegale Kopien von E-Books und Scans, Deutschland gilt als zweitgrößter Piratenmarkt der Welt. Portale generieren Milliardeneinnahmen durch Werbe-Ads, profitieren parasitär von den Investitionen der Branche. Echte LeserInnen dagegen besäßen ein Verständnis für literaturwirtschaftliche Zusammenhänge, und beklauten "ihre" Lieblingautorin auch eher nicht. Unser Fazit: Was nichts an der Empörung ändert, vom Gesetzgeber bei der (internationalen) Rechtsdurchsetzung gegen Piraterie-Portale allein gelassen zu sein.

3. Der Wert des geistigen Eigentums der Konsumentinnen: Die gläserne Leserin am Plastiktisch

Die eLeserin wird eingeschleust in das Analyse-Algorithmensystem von Amazon, Apple, Google und Co, man weiß genau, was, wann und wie sie liest. Wie nützlich, auch für Dritte und den Werbebetrieb! Oder für Amazon, der sich als "Verlag" geriert, und schon genau sagen kann, was die Algorithmen so an potentiellen Bestseller-Themen und no-go-Formulierungen auswerfen. Damit droht, so die Ansicht der BücherFrauen, die "Ikea-isierung" der Literatur: anstatt literarischer Einzelstücke gibt es Baukasten-Romane und massenkompatible "Plastiktische". Leserinnen besitzen ein wertvolles geistiges Eigentum: ihre Gedanken und Meinugen zu Büchern. Inhalte-Monopolisten, die mit dieser intimen "Ware" (intransparent) arbeiten, müssen mit Skepsis betrachtet werden.

4. Der Wert der Schöpfung: eLesen ist auch Erleben!

Neben der "Ikea-isierung" ist die kreative Dynamik begrüßenswert: der eMarkt fördert abwechlungsreiche literarische Formate (Handyroman, Twitterroman, Blogpoesie, enhanced ebooks, mehr Short Stories, Mitmach-Projekte, Kleinstserien, spin-offs…) und baut komplexe Lese-Universen. Ob Pottermore, Deathbook, das Narnia-Versum; auch Leseförderung kann neu gestaltet werden. Mein Fazit: Die Kreativität der Autorinnen und konzeptionellen Literaturdenkerinnen erobert sich den Cyberraum, der bisherige kreative (Druck)Markt wird erweitert.

5. Der Wert der Buchhändlerin ist ungebrochen − nur das Selbstbewusstsein fehlt

Kostenfreier Bestell- und Versand-Service, Beratung, Begegnung mit "echten" Büchern: Immer noch rangiert der (nachbarschaftliche) Buchladen vorne, wenn es um Kaufentscheidungen geht. Amazon und E-Book-Vertriebe schaden fühlbar, doch ersetzen sie beide etwas Essentielles nicht: Ein Buch bleibt immer etwas Persönliches. Und die Kauf- und Leseentscheidungen fallen auch weiterhin durch persönliche, empathische Empfehlung. Eine gute Buchhändlerin nutzt neben ihrem Wissen ihr Gespür; ein geistiger Wert, für den es keine Programme gibt.

6. Wert bedeutet auch: ethische, moralische, gesellschaftliche Werte

Neben der rechtlichen, wirtschaftlichen und kreativen Wert-Neujustierung der geistigen Leistungen, sehen die BücherFrauen vor allem Initiativbedarf im Mitgestalten des aktualisierten Werterahmens. Wieviel ist die "Ware Buch"welchen Mitspielerinnen wert − den Piraten, dem Buchmarkt, den Content-Verteilmaschinen? Welchen Wert hat das professionelle Arbeiten der Büchermenschen in der Außenwahrnehmung, und je, auch nur teilweise, technisch ersetzt werden? Welchen Wert weisen wir der Literatur generell zu − ist sie "Content", ist sie Produkt, ist sie ein Ausdruck menschlicher Sehnsucht nach Gefühl, Verzauberung und Seelenatmen? Mein Fazit: Es kommt darauf an, dass wir BücherMenschen die Balance dieser Wert(e)-Schöpfung und Ausschöpfung mitgestalten − dann wird die Literaur 3.0 ein verdammt spannender Ritt.

 

Über Nina George

Die Bestsellerautorin, Journalistin und Wortaktivistin Nina George (*1973) schreibt seit 1992 Romane, Thriller, Sachbücher, Kolumnen, Portraits, Reports und Essays. Ihr größter Erfolg war der Roman "Das Lavendelzimmer", mit dem sie wochenlang in den Bestsellercharts stand, und der in bisher 15 Sprachen übersetzt wird. George gründete 2011 die Initiative "JA zum Urheberrecht", die 29 Verbände und buchaffine Partner umfasst.

George lehrt professionelles Erzählen, wirkt unter anderem im int. Vorstand Three Seas Writers' and Translators' Council und im Vorstand von Hamburg Hoch Elf. Sie lebt im Hamburger Grindelviertel. Mitglied im PEN, VS, GEDOK, Das Syndikat, BücherFrauen. www.ninageorge.de