Japanische Gegenwartsliteratur

Alles Fake

5. Juni 2018
von Anita Djafari
Im Land der aufgehenden Sonne durchleuchten die Schriftsteller die Leistungsgesellschaft, den Zwang zur Normalität und die Auflehnung dagegen. Schlaglichter auf die zeitgenössische japanische Literatur.

Bei der Frage nach einem japanischen Schriftsteller nennen hierzulande viele sofort Haruki Murakami, der eine riesige und treue Fangemeinde hat. Daneben gibt es aber eine Reihe von japanischen Autorinnen und Autoren, deren Werke es ebenfalls verdient haben, genauer angeschaut zu werden. Ihnen gemeinsam ist der zurückgenommene, reduzierte Stil des Erzählens, der einen besonderen Einblick in die Seelenlage der Menschen ebenso wie auf die Verwerfungen der japanischen (Leistungs-)Gesellschaft erlaubt – eine Gesellschaft, die nicht nur geografisch fern ist und uns doch einiges zu sagen hat.

Letztlich war es die japanisch-österreichische Autorin Milena Michiko Flašar, die uns 2012 mit ihrem Bestseller "Ich nannte ihn Krawatte" (Wagenbach, epub, 144 S., 16,90 Euro; btb, Broschur, 144 S., 9 Euro) mit einem Phänomen der japanischen Gesellschaft vertraut gemacht hat, den sogenannten Hikikomoris – jungen Menschen, die sich aus dem Gefühl der Überforderung jeder Leistung und auch dem Leben überhaupt verweigern, indem sie beispielsweise ihr Zimmer gar nicht mehr verlassen. Schauplatz des Romans ist eine Parkbank in Japan, auf der sich zwei »Verweigerer« treffen. Der eine ist ein junger Mann, der sich nach sehr langer Zeit überhaupt wieder ins Freie wagt und im Park auf einen alten Mann trifft, dem es offenbar ähnlich geht. Zwei Seelenverwandte, die auf den Anpassungsdruck auf ihre Weise reagieren. Aus der Begegnung allerdings erwächst leise Hoffnung.

Jetzt hat die Autorin einen neuen Roman vorgelegt: "Herr Katō spielt Familie" (Wagenbach, 176 S., 20 Euro), in dem sie ein ähnliches Thema mit etwas anderen Vorzeichen wieder aufgreift. Schauplatz ist erneut Japan, ein Mann tritt in den Ruhestand und kommt nicht damit zurecht. Nichts zu tun, der Tag hat keine Struktur, die Zeit dehnt sich. Da trifft es sich gut, dass er eine junge Frau kennenlernt, die Personal sucht für ihre Agentur Happy Family – da wird mal ein Opa gesucht, mal ein Vorgesetzter, mal ein Mann, mit dem die Scheidung besprochen wird und der so zum Ex-Mann wird, für ein paar Stunden. Alles Fake. Der Pensionär findet Gefallen an diesen Rollenspielen und beherrscht sie so gut, dass er ständig gebucht wird und sein Leben wieder erfüllt ist. Was vermeintlich konstruiert daherkommt, ist dem wahren Leben abgeschaut: In Japan gibt es Agenturen, die davon leben, »echtes« Leben zu vermitteln. Da werden ganze Hochzeitsgesellschaften gebucht, Freunde, Verwandte, Familie, die es überhaupt nicht gibt, eben eine Happy Family. Was zählt, ist die »Happiness«, ob sie nun auf Wahrheit beruht oder nicht. 

Ebenso konstruiert und zugespitzt erscheint das Schicksal der Protagonistin Keiko in Sayaka Muratas Roman "Die Ladenhüterin" (Aufbau, 146 S., 18 Euro). Thema ist der Konformitätsdruck, dem sich Keiko konsequent verweigert. Sie arbeitet in einem sogenannten Kombini, einem Convenience-Store, der rund um die Uhr geöffnet hat. Normalerweise ein Job, den man vorübergehend mal macht. Keiko, Mitte 30, aber macht ihn trotz akademischem Abschluss schon 18 Jahre lang und bemüht sich, darin so unauffällig und angepasst wie möglich zu funktionieren, mehr will sie nicht. Allein ihre Umgebung wundert sich und vor allem ihre Familie leidet mehr als sie selbst darunter, dass Keiko einfach nicht »normal« werden will. Sie müsste doch eine richtige Karriere anstreben oder wichtiger noch, eine richtige Familie mit Mann und Kind(ern).

Als eines Tages ein veritabler Loser in den Laden kommt und sich sogar den einfachen Arbeiten dort verweigert, sich aber bei ihr zu Hause einnistet – so nimmt er ihre Badewanne als Schlafplatz in Beschlag –, scheint es eine Wende zu geben. Die beiden können so die von ihnen geforderte Anpassung an die Erwartungen zumindest nach außen vortäuschen, indem sie als Paar mit Zukunftsplänen durchgehen. Doch am Ende findet sich Keiko wieder im vertrauten Kombini wieder, als »Laden­hüterin« im doppelten Wortsinn, und ist zufrieden. Das ist so einfach wie eindrücklich erzählt, die Monotonie des Alltags wird in der Sprache, in der kein Schnörkel zu viel ist, reflektiert. Und gleichzeitig hat dieser schmale Band etwas Gewitztes, indem er uns auf falsche Fährten führt und schließlich zum Nachdenken über unseren eigenen "Convenience-Store" zwingt.

Das gilt auch für Nanae Aoyamas Erzählband "Bruchstücke" (Cass, 158 S., 17 Euro). Hier geht es vornehmlich um die Sprachlosigkeit in den Beziehungen, zwischen den Geschlechtern, aber auch innerhalb der Familien. In der Anfangsgeschichte ist ein Ausflug in die Kirschberge geplant, die gesamte Familie, Vater, Mutter, Schwager, Schwester, Kinder, alle sollen mit. Doch einer nach dem anderen wird unpässlich, es bleiben Vater und erwachsene Tochter, die sich vor dieser unerwarteten Zweisamkeit, einen ganzen Tag lang, fürchtet, aber unerwartete Erfahrungen macht. Dabei passiert absolut nichts Spektakuläres, die Fahrt und das Kirschenpflücken werden mit einfachen und wenigen Worten beschrieben, die Beklemmung und Fremdheit zwischen den beiden wird ebenso spürbar wie die kleinen überraschenden Momente, die die Wahrnehmung des anderen plötzlich verändern. Das trifft ebenso auf die beiden anderen Geschichten zu, in denen es um Liebesbeziehungen geht, vergangene und werdende. Vordergründig geschieht nichts, und dennoch entfaltet sich die ganze innere Welt der Protagonisten, ohne dass jemals psychologisiert wird.

Eindringlich und beinahe magisch ist die Geschichte über drei junge Menschen in dem stillen Roman von Durian Sukegawa, "Die Insel der Freundschaft" (DuMont, 350 S., 20 Eu­ro). Von Titeln sollte man sich grundsätzlich nicht irreführen lassen, denn hier ist die Insel, auf die es die drei verschlägt, ein eher schwieriger Ort. Sie liegt sehr weit weg von der Hauptstadt Tokio, irgendwo im Pazifik.

Alle drei haben für einen Job dort angeheuert, weil sie auf der Suche sind. Wonach genau, erschließt sich dabei nicht sofort. Sie scheinen zu taumeln in ihrer Ziellosigkeit, die Insel mit all ihren Merkwürdigkeiten gibt ihnen nur vorübergehend eine Perspektive. Sie rücken zusammen, ohne sich wirklich näherzukommen. Den Abstand, der sie durch das Meer von der normalen Gesellschaft auf dem Festland trennt, haben sie gesucht. Aber eine Antwort oder einen Ausweg finden sie nicht. Schließlich bleibt nur der auf der Insel, der doch ein Ziel hat: Er will etwas über seinen Vater erfahren, der mit der Herstellung von Ziegenkäse ökonomisch gescheitert war und Selbstmord begangen hat. Der Junge findet auf der Insel tatsächlich sowohl die Ziegen als auch das Geheimnis der richtigen Herstellung und dazu noch den Mentor, der ihm auf dem Weg dorthin hilft. Am Ende fährt er mit der Erkenntnis allein weg übers offene Meer. Eine gelungene Metapher über die Untiefen von Menschen und die Frage, ob es überhaupt so etwas wie eine Auflösung, eine Katharsis, geben kann. In der aktuellen japanischen Literatur wohl eher nicht.

Einen guten Überblick über die moderne Literatur aus Japan gibt die von Elena Giannoulis herausgegebene Anthologie "Von Katzentötern, schwebenden Rauchern und der Suche nach Nilpferden" (be.bra Verlag, 176 S., 18 Euro). Darin findet sich die ganze Bandbreite von surrealistischer Popliteratur über realistische Schilderungen bis zu absurd-grotesker Science-Fiction. Herausragend ist darin die kurze Geschichte der wunderbaren Autorin Hiromi Kawakami, die wie schon in ihrem Roman "Bis nächstes Jahr im Frühling" (Hanser, 224 S., 19,90 Euro; dtv, 224 S., 9,90 Euro) sehr fein die Kompliziertheit von Liebesbeziehungen und darin die Situation der Frau zu beschreiben vermag. In der Kurzgeschichte geht es um ein junges Liebespaar, das ein idyllisches Picknick am Fluss macht – und gleich schleicht sich in die vermeintlich harmlosen Dialoge das Unbehagen ein und die Frage: Wird das alles gut gehen?

Zu guter Letzt sei auf einen im vergangenen Herbst erschienenen Kriminalroman verwiesen, der aus der Fülle der beliebten japanischen Krimis hervorsticht: "Der Sonnenschirm des Terroristen" von Iori Fujiwara (Cass, 352 S., 19,95 Euro). Hier geht es handfest zu. Fujiwara zeigt die schillernde Metropole Tokio von unten, schildert sie aus der Perspektive von Obdachlosen; einer der Protagonisten ist in diesem Milieu gelandet und versucht einen Terroranschlag aufzuklären. Der Roman durchmisst die Zeit nach 1968 bis in die Gegenwart, in der er zwei Protagonisten der damaligen Studentenprotestbewegung wieder aufeinanderprallen lässt. Dabei erfahren wir, dass die Yakuza, die japanische Mafia, integraler Bestandteil der Gesellschaft ist. Ein Thriller auf hohem Niveau. Zugänglich gemacht hat ihn der kleine und feine Cass Verlag, geführt von zwei Japanologen, dem wir so einige Entdeckungen zu verdanken haben.