Kommentar: Thienemann passt Preußler-Bücher an

Der Preis der Unverfänglichkeit

8. Januar 2013
von Börsenblatt
Thienemann glättet Otfried Preußlers Kinderbuchklassiker "Die kleine Hexe". Diskriminierende Begriffe verschwinden oder werden ersetzt, veralteter Wortschatz wird aktualisiert. Handelt es sich um Eingriffe, die die sprachliche Integrität des literarischen Werks beschädigen? Börsenblatt-Redakteur Michael Roesler-Graichen geht dieser Frage nach.

Versuche, literarische oder religiöse Texte zu modernisieren, von veraltetem Vokabular zu entschlacken und von diskriminierenden Begriffen zu säubern, gab und gibt es immer wieder. Man denke nur an zeitgemäße Fassungen des Neuen Testaments ("Gute Nachricht"), an vereinfachte Schullektüren von Klassikern oder an entschärfte Versionen der "Pippi-Langstrumpf"-Abenteuer, von Mark Twains "Huckleberry Finn" und weiteren Kinderbuch-Eversellern. Nun also "Die kleine Hexe" und weitere Titel von Otfried Preußler.

Die Absicht dahinter ist meist pädagogisch-politischer Natur: Kinder sollen Texte verstehen können, die Texte ihrem Sprachstand angepasst werden. Ungebräuchliche, missverständliche oder als diskriminierend eingestufte Wörter oder Formulierungen werden getilgt oder durch unverfängliche Begriffe ersetzt.

Doch wird damit nicht die Authentizität des Textes, seine sprachliche Gestalt, beschädigt? Und wird den Kindern, denen man die aktualisierten Versionen vorsetzt, nicht etwas vorenthalten?

Vor allem aber stellt sich die Frage: Wo fängt man mit Modernisierungen und Ent-Diskriminierungen an und wo hört man auf? Wie steht es beispielsweise mit den Märchen der Brüder Grimm, deren Texte bis heute Wörter und Wendungen enthalten, die Kindern, aber auch den meisten Erwachsenen, nicht geläufig sind? Wer kennt beispielsweise noch die genaue Bedeutung eines Worts wie "Gevatter" oder "Muhme"? Wer verwendet noch eine Wendung wie "Es trug sich zu …"?

Natürlich sind viele Klassiker der Weltliteratur wie "Don Quijote" oder "Die Schatzinsel" in gekürzten, bearbeiteten Jugendbuchfassungen erschienen – doch meist hat man sich gehütet, die Historizität der Texte anzutasten. Literarische Werke sind nicht zeitlos. Sie sind zeitlich und überzeitlich zugleich. Die Handlung eines Romans wie "Oliver Twist" spiegelt die historischen Verhältnisse wieder, und die Sprache bildet ab, wie zur Zeit der Erzählhandlung oder der Aufzeichnung gesprochen wurde. Überzeitlich ist hingegen der Stoff, sind gewisse Motive (das der Vertauschung zum Beispiel) oder Konstellationen, sind anthropologische Konstanten, die auch in moderner Gestalt wiederkehren können.

Die Sprache eines literarischen Werks – und dazu gehören auch Kinderbücher – an den jeweiligen Zeitgeist, die jeweilige Doktrin oder Ideologie anzupassen (und dazu gehört in gewisser Weise auch die Political Correctness), beeinträchtigt die Integrität des Werks derart, dass man seine Identität bezweifeln mag. Muss man künftig zwischen "Die kleine Hexe" (1957) und "Die kleine Hexe" (2013) unterscheiden? Müssen ältere Versionen als die bereinigte dann eventuell aus öffentlichen Büchereien entfernt werden? Da kommt man schnell in argumentative Sackgassen und Begründungsnotstände.

Auch wenn man Thienemann ehrenwerte Motive unterstellen mag – es gäbe Alternativen: Die Bücher könnten ein Glossar bekommen, in dem veraltete oder angreifbare Wörter erläutert werden. Dem Text ließen sich Fußnoten oder kleine Erklärstücke beigeben. Die beanstandeten Begriffe könnten markiert werden etc. Außerdem gibt es immer noch Eltern, die Kindern die "Unwörter" erklären oder die Fragen ihrer Kinder beantworten können. Zur Leseförderung und Spracherziehung gehört es außerdem, Kindern die Vorstellung verschiedener Sprachstufen zu vermitteln, die sie im Kontakt mit Älteren, etwa den Großeltern, ohnehin erleben.

Die Besonderheit eines literarischen Werks sollte nicht dem Argument der besseren Verkäuflichkeit geopfert werden.