Literarisches Quartett

Gut dosierte Streitmomente

2. Oktober 2015
von Börsenblatt
Live on Tape mit Publikum: Am Mittwoch wurde im Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm das erste neue "Literarische Quartett" aufgezeichnet, das heute um 23 Uhr im ZDF ausgestrahlt wird.

Gastgeber Volker Weidermann, Christine Westermann, Maxim Biller und Premierengast Juli Zeh debattieren 45 Minuten lang über die aktuellen Werke von Karl Ove Knausgård, Ilija Trojanow, Péter Gárdos und Chigozie Obioma. Im ehrenwerten Berliner Ensemble zwischen viel altem Holz, Gold, Spiegeln und schwarzen Vorhängen sollte es um 14 Uhr losgehen. Der Start geriet etwas holprig: Das erste Mal gingen die Kameras um 14.30 an − und wenig später wieder aus.

Warm-up

Quartett-Chef Volker Weidermann hatte den mittelblauen Anzug von der Probesendung im Sommer an, mit dem rostroten, leicht lädierten Einstecktuch. Die Urlaubsbräune konnte nicht darüber hinwegtäuschen: Der Mann war mordsmäßig aufgeregt. Die fernseherfahrene Christiane Westermann, TV-Legende aus "Zimmer frei" mit eigener Literatursendung im WDR Hörfunk, half über die ersten Minuten. Keiner wisse, was die anderen über die vier vorgestellten Bücher denken, erklärte sie. Und dass ein Stuhl für Hellmuth Karasek, der am Dienstag mit 81 Jahren gestorben ist, reserviert gewesen sei. Weidermann: "Ein Schock, niederschmetternd. Man nennt das hier Warm-up, aber es ist eher ein Cool-down." Die Idee des neuen "Literarischen Quartetts" habe ihm gefallen. Man wolle nun eine Sendung machen, die ihn nicht enttäuscht hätte. Als Replik an seinen Vorgänger Marcel Reich-Ranicki hatte Weidermann "Eine Tüte Literatur" dabei, aus der Reich-Ranickis Stimme kommt, wenn sie geöffnet wird. Sein Sohn Franz habe das eine Zeit lang sehr oft getan. Bald hieß es: "Papa, der Mann aus der Tüte ist am Telefon". Weidermann und Reich-Ranicki waren Kollegen im Feuilleton der "FAZ".

Es geht los

Die von DJ und Elektromusiker Henrik Schwarz neu komponierte alte Titelmusik erklang, das Publikum klatschte (wie vorher gelernt) − und Weidermann redete in den lauten Applaus hinein. Kameras aus, Weidermann brauchte noch einmal Puder. Christine Westermann machte Mut, Biller lästerte: "Die Generalprobe war gut, aber da waren Sie ja nicht dabei". Zweiter Versuch: Kamera an, Titelmusik. Tonprobleme. Bevor es weitergehen konnte, mußte Biller neu verkabelt werden. Sein Kommentar: "Wird jetzt wenigstens einer gekündigt?" Bis die Tonmenschen zufrieden waren, sang Biller die Anfänge diverser osteuropäischer Nationalhymnen. Applaus. Weidermann schaute so lange ein bisschen drein wie ein trauriger Hund. Und los ging es. Der Quartett-Chef grüßte, stellte vor, ehrte Karasek ("Er war ein leidenschaftlicher Kritiker, ein großer Bücherkämpfer und ein wunderbarer Kollege") und gab Biller das Wort.

Die Debatte

Biller stellte "Der dunkle Fluss" von Chigozie Obioma vor (Aufbau Verlag) vor, ein Familiendrama und eine Fabel über das Schicksal Nigerias, mit dem der afrikanische Autor auf der Shortlist zum Man Booker Prize 2015 steht. Er verglich den Roman in seiner Begeisterung mit Kafkas Prozess. Christine Westermann bemängelte die für ihr Empfinden ungelenke Übersetzung. Volker Weidermann störte sich an "Afrika-Klischees", war am Ende aber froh, das Buch, das er eigentlich nach 30 Seiten weggelegt hatte, in Vorbereitung auf die Sendung doch zu Ende gelesen zu haben. Juli Zeh lobte ebenfalls den Plot, der sie an an eine griechische Tragödie erinnerte, kritisierte aber den Perspektivwechsel zwischen dem kindlichen und dem erwachsenen Erzähler. Biller unterbrach: "Wir sind jetzt in der Hölle deutscher Literaturkritiker". Der Roman sei ein "Selbsthassbuch" und stehe nicht umsonst auf der Man Booker Prize Shortlist. Auch Weidermann teilte Zehs Kritik am Perspektivwechsel nicht, den die Autorin gern noch ausgeführt hätte. Biller kam aber schon zum  Fazit: "Der Literaturkritiker rümpft die Nase, die Leser werden begeistert sein". Bilanz: 2 : 2

Dann war Juli Zeh dran und schwärme für das Buch "Macht und Widerstand" von Ilija Trojanow (S. Fischer), das ein halbes Jahrhundert bulgarischer Zeitgeschichte entfaltet und von menschlicher Würde und Niedertracht erzählt. Biller: "Ich habe mir schon vorher vorgenommen, das Buch schlecht zu finden, und es war auch schlecht. Es war wie Folter in einem Staatssicherheitsknast, es ist eine solche langweilige Qual, das zu lesen." Weidermann stimmte zu. Macht und Widerstand − damit sei das Konzept des Buches zu Ende. Christine Westermann vermisste ein Glossar, machte aber ein auch paar "schriftstellerische Momente" aus. Bilanz: 1 : 3  

"Träumen", der fünfte Band des autobiografischen Romanprojekts des Norwegers Karl Ove Kanusgard (Luchterhand) wurde von Volker Weidermann euphorisch empfohlen. Am wenigsten gefallen hatte der 800-Seiten-Wälzer Christine Westermann: "Es wird hektoliterweise Tee getrunken, und ich bin bei jeder einzelnen Tasse dabei."  Juli Zeh lobte genau diese Kunst des Beschreibens von Alltäglichkeit ("alles wird lebendig"). Biller, dem der Roman ebenfalls gefiel, versuchte Westermann zu überzeugen: "Vielleicht verdrängen Sie etwas in Ihrem Leben...". Herrlich! Bilanz: 3 : 1 

Zuletzt stellt Christine Westermann "Fieber am Morgen" vor, den ersten Roman des ungarischen Film- und Theaterregisseurs Péter Gárdos (Hoffmann und Campe) − eine Geschichte über die Liebe. "Innig, unbekümmert, etwas unbeholfen", aber durchaus empfehlenswert, so ihr Urteil. "Holocaust-Kitsch" bellte Biller. Zu guter Literatur gehöre auch gute Sprache, pflichtete Zeh ihm bei. Weidermann hatte das Buch, das auf einer wahren Geschichte basiert, ebenso wie Christine Westermann "berührt". Bilanz: 2 : 2

So war's

Die Vorstellung der Bücher war arg knapp. Wer etwas über die Inhalte erfahren will, dürfte mit den Klappentexten besser bedient sein. Das war beim Original-Quartett aber nicht anders. Da wie hier geht es um das − mehr oder weniger gut − begründete Urteil von Literaturenthusiasten mit Charakter, die lustvoll und streitbar ihre Meinung sagen. Und um Rollen, denn das Quartett funktioniert wie ein Theaterstück. Maxim Biller etwa hat sich als Enfant terrible mit bereits bestens eingeführt. Volker Weidermann agierte, anders als sein Vorgänger, als Gleicher unter Gleichen. Das muss aber nicht so bleiben. Wer nimmt welchen Platz ein? Welche Bündnisse werden geschlossen? Wie werden die Gäste integriert? Es könnte Spaß machen, das herauszufinden. Und von den Büchern bleibt mehr im Kopf (Details, Einwände, enthusiastischer Zuspruch), als man denkt. Und wie sympathisch ist das! Als die Kameras aus waren, redete das Quartett nicht etwa über den Verlauf der Sendung, sondern einfach mal weiter über die Romane.

Termine

Premiere des neuen "Literarischen Quartetts": 2. Oktober, 23 Uhr, ZDF
Nächste Sendungen: 6. November und 11. Dezember 2015

Lesen Sie zum "Literarischen Quartett" auch das Interview mit "Spiegel"-Literaturchef Volker Weidermann auf boersenblatt.net: "Buchhändler könnten den Gastplatz sehr gut einnehmen".