Martina Bergmann über die Ungeduld im Buchgeschäft (5)

Produkt in Unruhe

16. Juni 2017
von Börsenblatt
"Die Kernkompetenzen des Buchhandels sind in diesen überdrehten Zeiten nur scheinbar obsolet", meint Martina Bergmann und wünscht sich mehr Gründlichkeit und Expertise. Teil 5 einer zehnteiligen Serie der Buchhändlerin und Verlegerin aus Borgholzhausen.

Bücher sind Inhalte auf Beschreibstoff, die man in Fachgeschäften kauft. Ein bisschen unlogisch war das immer, weil man für den Datenträger bezahlt, der das speichert, was man eigentlich haben will: Die Geschichte, den Text, die Information. Aber es hat über Jahrhunderte funktioniert. Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Buchhandels ist ein Bericht über Konjunkturen, über technischen Fortschritt und Verdrängungswettbewerbe. Setzer und Drucker, Verleger und verlegende Buchhändler, die Integration alphabetisierter und also lesender Schichten, die Erschließung neuer Wissensgebiete für das Druckprodukt und seine Nutzer: All diese Phänomene haben den Buchhandel zu dem gemacht, was er heute ist, zu einem Geflecht aus Brauchtum und Notwendigkeiten.

"Buchhandelsalltag ist das Geschäft mit Liebesromanen, Kinderserien und Wanderkarten"

Über die Geschichte des Buchhandels wird zu wenig gesprochen. Sie ist akademisch eher ein Nebenpfad der Germanistik, eine Fußnote der Literaturkritik. Das ist nicht völlig verkehrt, denn auch in Buchhandlungen werden Autoren und ihre Werke öffentlich. Aber Buchhandelsalltag ist nicht vorrangig der gediegene Austausch über Belletristik höheren Zuschnitts. Es ist das Geschäft mit den Liebesromanen, Kinderserien und Wanderkarten. Buchhandel abseits der besseren Großstadtlagen und akademischen Inseln ist seit jeher das Geschäft mit dem Massengeschmack. Dieses Geschäft ist in den letzten Jahren schwierig geworden, weil überall Unruhe ist. Es reicht ja nicht, dass der Einzelhandel darnieder liegt oder zumindest darunter ächzt, dass alle Welt erzählt, es sei an dem. Ich habe Stichproben gemacht und Einzelhändler befragt, bei denen ich selbst Geld ausgebe. Die Stimmung ist nicht überall schlecht, sie ist in den kleinen Fachgeschäften und Boutiquen etwas verhalten wegen dieses nicht enden wollenden Geredes vom Untergang des Einzelhandels. Aber wo es individuell ist, sieht man Kunden, und man sieht sie kaufen. Dies vorab zur Beruhigung.

"Warten lohnt sich, denn die Ungeduld ist groß"

Was mich stärker umtreibt als die Unruhe am Markt, ist die Unruhe des Produkts. Da stimmt ja nichts mehr. Man kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass zwischen der gebundenen Ausgabe und dem Taschenbuch plus/minus zwei Jahre liegen. Es sind heute, gerade im populären Segment, eher zwölf bis vierzehn Monate. Kunden, die ein Buch unbedingt lesen wollen, kaufen es schnell, also zum höheren Preis. Der Rest wartet. Sei es auf die Taschenbuchausgabe, sei es auf das wohlfeile Mängelexemplar in einer Schütte draußen vor der Tür. Warten lohnt sich, denn die Ungeduld ist groß. Hat sich ein Buch nicht binnen Wochen durchgesetzt, gilt es als Flop. Die Muße, Autor und Titel in Ruhe vorzustellen, Bücher über längere Zeit lieferbar zu halten, gar ein Gesamtwerk zu pflegen - diese Muße leisten sich nur wenige Verlage. Ich kann nicht glauben, dass Aktionismus betriebswirtschaftlich sinnvoll ist. Die Produktion von potenziellen Supersellern, die quartalsweise zu Flops und später zu Paletten voller Remittenden herabgestuft werden, ist unnötige Inflation. Sie zeigt nur die schlechte Seite des mit Recht schneller gewordenen Buchhandels: Schaut her, wir können blitzschnell reagieren, wenn etwas nicht funktioniert. Sie negligiert aber die Chancen unserer guten, gemeinsamen Logistik, die rechts und links von Amazon nun wirklich nicht geschlafen hat. Damit meine ich nicht nur die Bücherwagendienste, sondern auch funktionale Datenbanken.

 

"Wagenburgen aus Stapeltiteln zu bauen, ist keine wichtige Aufgabe"

Gute Logistik heißt für mich, das Buch kommt über Nacht. Für den Kunden portofrei, unabhängig von den geschundenen Paketwagenfahrern aus Osteuropa, schon morgens früh in Gegenden, wo die gelben Autos erst am Nachmittag auftauchen. Buchhändler haben eine gute Nische, weil sie von der maroden und überlasteten Infrastruktur nicht so stark abhängig sind wie ihre digitalen Mitbewerber, die dieses Elend übrigens wesentlich verursacht haben. Man muss Mitarbeitern und Kunden immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass es nicht selbstverständlich ist, etwa 400 000 Titel über Nacht bestellen zu können und deutlich mehr binnen weniger Tage. Buchhandel kann viel Wertvolles, wenn er sich auf das besinnt, was ihn ausmacht: Gründlichkeit und Expertise. Wagenburgen aus Stapeltiteln zu bauen, ist keine wichtige Aufgabe. Wagenburgen liegen rum und kosten Geld. Es ist völlig egal, ob man 40 oder 45 Prozent Rabatt verhandelt hat, wenn kein Mensch den Krempel haben will.

Gründlichkeit und Expertise kosten Zeit, kein Geld. Und das ist für mich der zentrale Punkt: Zeit zum Lesen und Überlegen, zum Erwägen und Entscheiden. Warum der Überschallgeschwindigkeit folgen, die einzelne Unternehmen vorgeben? Oder Erklärern und Erziehern, die - physisch als Berater, digital mit Meinungsmache - Wahrheiten verkünden, denen die Bodenhaftung fehlt. Besonders auffällig ist das bei den E-Books. E-Books im stationären Einzelhandel zu verkaufen, ist ein unendlich mühsames Geschäft. Man muss sich Technikwissen aneignen, muss Geräte wie Formate selbst verstehen und seinerseits erklären können. Dass Buchhändler sich dieser nun gar nicht mehr so neue Warengruppe immer noch verweigern, ist töricht. Es ist oft lästig, aber nie sinnlos, denn wer im Einzelhandel E-Books aufgespielt haben möchte, der ist kein Digital Native. Es sind eher ältere Unterhaltungsleser, die den Bertelsmann Club vermissen. Diese Leute sind treu und freundlich, man kann sie durch E-Book-Service an seine Buchhandlung binden. Einmal der Schwellenangst entkommen, kaufen sie auch ihre Geschenke für die Enkel und zu Weihnachten am Ort. Sie sind profitable Kunden, aber sie wollen von enhanced Content mit Sicherheit nichts wissen, und genauso wenig interessiert sie literarische Avantgarde. Das ist schon auf Papier nicht ihre Lektüre. Eine wesentliche Aufgabe des Buchhändlers im Digitalzeitalter sehe ich darin, die uferlos gewordenen Optionen zu überblicken und deren allermeiste direkt zu verwerfen. Vieles ist intellektuell aufregend; es gibt zweifelsohne kluge Strategen in dem Bereich. Aber was von ihrem Tun und Denken hat überhaupt mit dem Bucheinzelhandel zu tun? Was davon betrifft uns?

 

"Kunden interessiert Empfehlungsmarketing von Menschen, die sie kennen"

Gleiches gilt für Blogger. Schön, dass es Buchblogger gibt. Erfreulich, dass sie gern viel lesen und Besinnungsaufsätze über ihre Lektüreerfahrungen verfassen. Kann man alles zur Kenntnis nehmen, ist auch nicht alles blöd. Aber hilft dieses literaturkritische Amateurwesen im Sortimentsalltag? Nein. Kunden überzeugt es, wenn ich sage - hier mein aktuelles Lieblingsbuch. Diesen Kriminalroman hat meine Mutter gern gelesen, und jenem Sachbuch sind bereits sieben Leute in den Wald gefolgt. Sie kamen alle wieder. Kunden interessiert Empfehlungsmarketing von Menschen, die sie kennen, also von mir selbst, ihren Nachbarn und Christine Westermann. Alles, was dazwischen herumarbeitet, all die in ihren jeweiligen Filterblasen geläufigen Büchersender, interessieren Buchhandelskunden nicht. Deswegen soll man sie als Sortimenter nicht völlig ignorieren, aber doch darauf achten, sich ihre Wahrheiten nicht aufnötigen zu lassen. Dann besser selbst ein Bücherblog betreiben; es ist nicht schwer.

Die Kernkompetenzen des Buchhandels sind in diesen überdrehten Zeiten nur scheinbar obsolet. Sie sind in Wahrheit die beste Versicherung für unser Fortbestehen. Lesen, denken, sortieren, kuratieren und empfehlen kostet Zeit, aber nicht sofort Geld. Dass man dieses auch braucht, dass es ohne eine solide wirtschaftliche Grundlage nicht geht - geschenkt. Aber gerade weil diese so schwierig zu schaffen und bewahren ist, haben die meisten Blogger, Berater und Besprecher sie nicht. Bücher hat inzwischen fast jeder, aber fast keiner noch die Buchhandlung drumzu. Ich würde diese Kulisse nicht unterschätzen, weder sozial noch atmosphärisch. Wir haben, als stationäre, individuelle Sortimente eine Chance, wenn wir uns neben Amazon stellen. Neben dem Hegemon werden immer Nischen zu besetzen sein. Aber doch wohl von Buchhändlern, von Kaufleuten, und nicht von all den Ungeduldigen, die auf schnelles Büchergeld spekulieren. Bücher sind langsam. Deswegen gibt es sie seit Gutenbergs Zeiten in immer neuen Ausstattungen und sich wandelnden Marktsituationen. Bücher hatten es schon einfacher als heute. Aber es wird sie (und uns) nie nicht geben.

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