Meinung

Mängelexemplare

27. Mai 2010
von Börsenblatt
Viele Print-on-Demand-Titel sind lieblos zusammengeklebte Zumutungen. Von Hans Baumann.
Vielleicht wäre ich bei der Bestellung meines ersten (Re)Print-on-Demand-Bandes zurückhaltender gewesen, hätte ich zuvor den einleitenden Text gekannt: "Dieses Buch könnte Mängel aufweisen wie fehlende oder unscharfe Seiten, schlechte Bilder, Anstreichungen usw., die entweder bereits Teil des Originals waren oder beim Scannen entstanden sind." Trotz der vorsorglichen Warnung gab es nichts auszusetzen, und so bestellte ich weitere Titel. Natürlich erwerbe ich solche Werke nicht aus bibliophilen Gründen, sondern um mit ihnen zu arbeiten.
Bücher verhelfen uns zu unerwarteten Erlebnissen. Meist ist es ihr Inhalt, doch auch die Form kann Anlass zur Verblüffung bieten. Zu meinen leidvollen Erfahrungen gehören: falsche Angabe des Verfassers auf dem Titel, oder »Verfasser unbekannt« (obwohl er dann in der Titelei erscheint), Umschlagbeschriftungen wie: "Topographie der Stadt Rom, Part 3, Volumes 2-3", dazu passend ein Foto mit Segelschiffen. Beschriftungen auf den Buchrücken gibt’s nicht, rechte und linke Seiten sind vertauscht, Faltpläne nicht aufgeklappt, die Scanauflösung ist so niedrig, dass sich die Buchstaben nur mit Mühe entziffern lassen, schließlich gar ein Exem­plar mit im äußeren Drittel total geschwärzten Seiten. Ich lerne, dass der eingangs erwähnte Vortext eine Umschreibung ist für: "Wir haben keine Lust, unsere Bücher auf Mängel zu kontrollieren."
Ich bestelle ein 39-Euro-Buch mit gleich drei Herausgebern über Marcus Agrippa, den Schwiegersohn des Augustus: Es kommt ein 100-Seiten-Heftchen mit einer Schriftgröße von etwa 6 Punkt; lediglich ein paar Seiten widmen sich Agrippa, der Rest Leuten, mit denen er mal mehr oder weniger zu tun gehabt hat. Und alles stammt Wort für Wort aus Wikipedia.
Der deutsche Verlag hat seine Dependance für diese Unverschämtheit vorsichtshalber nach Mauritius verlegt. Die Lektüre eines weiteren Bandes klappt bis zur Mitte der zweiten Seite dank sauberen Neusatzes mühelos – dann folgt jede halbe Seite mitten in der Zeile wildes Text-Durcheinander. Des Rätsels Lösung: Der Verlag hat zur Umsetzung der Scans OCR-Software eingesetzt, die unterschiedslos Überschriften, Fließtext und Fußnoten zu einem einzigen Textmatsch zusammengequirlt hat.
(Re-)Print-on-Demand ist eine im Prinzip feine Sache, um längst vergriffene Titel wieder zugänglich zu machen, für die sich vergleichsweise wenige Leser finden. Das Angebot verfügbarer Titel wächst täglich. Die Preise sind nicht gerade günstig, aber noch akzeptabel. Immerhin hält man ein Buch in der Hand und keinen Stapel selbst ausgedruckter Google-Books-Seiten. Dennoch gibt es keine Rechtfertigung für die miserable Qualität, die einige dieser Verlage ihren Lesern zumuten.
Gerade packe ich die dicke Geschichte der Schriftformen von Taschen aus; 350 Seiten mit Reproduktionen alter Schriftmusterbücher, hochauflösend gescannt und sauber gedruckt. So geht’s doch auch – vorbildlich! Bezahlbare Bereitstellung alter Bücher ist in der Tat ein Kulturauftrag. Aber die ihnen vorangestellten Eigenabsolutionen, die mit druckfarbenschwarzen Krokodilstränen um Verständnis für Schlamperei und Lieblosigkeit betteln, sind eine ebensolche Zumutung wie dieser Reproduktionsschrott selbst.