Michael E. Hansen, CEO Cengage Learning, im Interview mit boersenblatt.net

"Auch die USA sind noch sehr am Anfang dieses Trends"

26. April 2016
von Börsenblatt
Cengage Learning (Jahresumsatz 1,7 Milliarden Dollar) sprenge die Dimension des Buches, meint Michael E. Hansen, Keynote-Sprecher beim Publishers' Forum am kommenden Donnerstag. Der CEO der US-Lernplattform über Beharrungskräfte in Unternehmen und Behörden, Digitalisierungsschübe und die Zukunft computerbasierten Lernens.

Wenn es zehn Gebote für die digitale Transformation im Unternehmen gäbe – welches wäre das erste?Das erste Gebot lautet: Fokussiere dich auf die Kultur im Unternehmen! Das mag verwundern, weil viele meinen, man müsse zuerst über neue Technologien reden. Aber es gibt heute viel mehr gute technologische wie inhaltliche Lösungen, die nicht umgesetzt werden, weil die Beharrungskräfte im Unternehmen stärker sind. Es ist extrem wichtig, den ganzen kulturellen Aspekt in einem Unternehmen im Auge zu behalten. Sonst läuft man Gefahr, dass man zwar ein gutes Produkt hat, aber nicht wirklich die Innovation im digitalen Bereich vorantreibt.

Digitalisierung ist ein komplexer Prozess, der in verschiedenen Verlagen in unterschiedlicher Geschwindigkeit abläuft. Wenn es eine Skala von schleppend bis rasant gäbe, wo würden Sie die Lernplattform Cengage einordnen?Kurz nach dem Buy-out durch die Private-Equity-Firma Apax Partners war Cengage am unteren Ende der Skala der Langsamkeit. Erst 2012, als das Geschäft massiv einbrach und klar wurde, dass das alte Geschäftsmodell, den Schülern immer wieder neu die alten Lehrbücher zu verkaufen, endgültig ausgedient hatte, hieß es: Wir müssen jetzt unbedingt die digitale Transformation anschieben. Das sollte ich, gerade zum CEO berufen, in die Hand nehmen. Wegen des großen Schuldenbergs, den das Unternehmen damals vor sich herschob, leitete ich dann ein erleichtertes Insolvenzverfahren, den sogenannten Chapter-11-Prozess, ein, der neun Monate dauerte und uns weitgehend schuldenfrei machte. Im April 2014 konnten wir als neues Unternehmen mit neuen Eigentümern starten. Heute sind wir in unserem Wettbewerbsumfeld, mit unseren beiden großen Mitbewerbern Pearson und McGraw-Hill, an der Spitze der Bewegung zum Digitalen. Ich glaube, es brauchte die Existenzkrise, um wirklich etwas bewegen zu können und eine ganz andere Dynamik hineinzubringen.

Hat Ihnen der Erfolg Recht gegeben?Wir haben die unbestritten beste Plattform im Markt, und unser Kernprodukt MindTap hat einen Kundenzuwachs von 150 – 170 Prozent jährlich.

Digitale Bildungsangebote sind in den USA wesentlich stärker verbreitet. Glauben Sie an einen Digitalisierungsschub bei Bildung in Deutschland?In den USA sind zwar digitale Bildungsangebote weiter verbreitet, aber wenn man sich anschaut, wie viele Hochschulstudenten tatsächlich heute eine adäquate, digitale Plattform nutzen, dann reden wir über alle Wettbewerber hinweg (Pearson, McGraw-Hill, Wiley) von zehn Prozent, die eine zeitgemäße digitale Lernerfahrung haben. Von 100 Millionen Kurserfahrungen, die Hochschulstudenten in den USA heute jährlich machen, sind weniger als zehn Millionen kontinuierliche digitale Lernerfahrungen. Auch die USA sind noch sehr am Anfang dieses Trends. Im deutschen Hochschulsystem sind die Beharrungskräfte sehr groß, und man bräuchte schon eine studentenfokussierte Kampagne, um dort einen signifikanten Fortschritt zu erreichen.

In welchem Bildungsfeld wird sich der Digitalisierungsschub ereignen: in Fortbildung und Hochschule oder auch im klassischen Schulbereich?
Er wird dort geschehen, wo man die Studenten oder Schüler direkt ansprechen und mit ihnen direkt in den Dialog treten kann, also eher an der Hochschule als im klassischen Schulbereich. In letzterem entscheiden in den USA die Bundesstaaten, welche Unterrichtsmaterialien beispielsweise für Mathematik angeschafft werden. Es gibt eine große Ausschreibung, aber oft haben die Staaten nicht das Geld, um flächendeckend eine Digitallösung einzuführen. Hinzu kommen die Beharrungskräfte der Lehrer, die mit den gewohnten (analogen) Medien arbeiten wollen. Das gestaltet sich alles sehr schwierig und bringt immer wieder Rückschläge mit sich: Das spektakulärste Beispiel ist das Scheitern des „Amplify"-Projekts, ein Unterrichts-Tablet, in das Rupert Murdoch 600 Millionen Dollar investiert hatte. Ein komplettes Desaster! Vor drei Monaten hat Murdoch ans Management verkauft und musste über 500 Millionen Dollar abschreiben.

Ist Digitalisierung alternativlos? Oder gibt es Bereiche – etwa im Publikumsmarkt -, die immer eine Domäne des Gedruckten sein werden?Im Publikumsbereich gab es in den vergangenen fünf Jahren einen starken Zug ins Digitale – forciert unter anderem durch den Kindle und das iPad. Mittlerweile haben wir einen Punkt der Rekalibrierung erreicht: Es ist toll, unterwegs mit dem Lesegerät auf zehn Bücher zugreifen zu können, aber wenn ich zu Hause sitze und einen schönen Roman lesen möchte, dann mache ich das lieber mit einem gedruckten Buch.

Diese Entwicklung belegen ja auch die aktuellen Marktzahlen: Print nimmt wieder zu, E-Books sind leicht rückläufig …Ja, aber im Bildungsbereich verhalten sich die Dinge anders: Mit unserer Plattform sprengen wir das Konzept des Buches. Ein traditionelles Lehrbuch ist linear strukturiert und folgt einem logischen Aufbau, um einen bestimmten Stoff zu vermitteln. Das Problem ist, dass schon zwei Schüler nicht gleich lernen und ganz andere Lerntechniken einsetzen. Sie haben ganz andere Vorstellungen davon, wie bestimmte Konzepte verstanden werden. Mit digitalen Lernmedien kann man das Lernen von Inhalten personalisieren und den Lernprozess sichtbar machen: Der eine begreift ein Konzept besser über eine 3-D-Darstellung, der andere über einen beschreibenden Text. Das lineare Lehrbuch wird auf diese Weise obsolet, der Roman aber eben nie. Die Story in einem Roman von John le Carré ist linear, und man wird sie nicht auseinandernehmen können wie Lerninhalte. In fünf Jahren werden wir im Publikumsbereich wahrscheinlich eine Balance von gedruckten und digitalen Büchern haben, im Lernbereich aber werden 90 Prozent der Inhalte digital sein, was nicht ausschließt, dass einzelne Nutzer sich diese print-on-demand ausdrucken lassen wollen.

Interview: Michael Roesler-Graichen

 

Zur Information: Cengage Learning

Cengage war früher unter anderem Namen Teil des Fachinformationskonzerns Thomson Reuters, wurde 2007 an den Finanzinvestor Apax Partners verkauft und wurde abschließend in Cengage umgetauft. Die Geschichte der Firma reicht in verschiedenen Konstellationen über 100 Jahre zurück. Heute setzt das Unternehmen jährlich 1,7 Milliarden Dollar um (2015), beschäftigt rund 5.500 Mitarbeiter und ist stark auf den US-Markt fokussiert. 85 Prozent des Umsatzes werden in den USA, 15 Prozent international generiert. Kerngeschäft in den USA ist das Segment Higher Education, dem in Deutschland der Bereich Universität und Hochschule entspricht. Die Aktivitäten im klassischen Schulbereich machen nur 10 Prozent des Gesamtumsatzes aus. Im klassischen Schulbereich operiert Cengage unter der Marke National Geographic, die von der National Geographic Foundation erworben wurde.