Mircea Cărtărescu und Navid Kermani über Europa

„Europa kann nur gelingen, wenn wir an unserer Andersartigkeit festhalten“

18. März 2018
von Börsenblatt
Zwei große Geister trafen auf der Leipziger Buchmesse im Forum OstSüdOst aufeinander: Das rumänische Kulturmininisterium hatte die Schriftsteller Mircea Cărtărescu und Navid Kermani zum Gespräch eingeladen.

Ein spannendes Zusammentreffen: Der in Köln lebende Orientalist und Schriftsteller Navid Kermani hat gerade eine Reisereportage durch das östliche Europa veröffentlicht ("Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan", C.H.Beck). Er spricht mit dem im rumänischen Bukarest lebenden Schriftsteller Mircea Cărtărescu über Europa und Kultur.

Fast sieht es so aus, als wäre Navid Kermani in dem Verkehrschaos durch die starken Schneefälle in Leipzig stecken geblieben, dann kommt er in letzter Minute – Aufatmen im Publikum, es kann losgehen. Gleich zu Beginn stellt Moderator Ernest Wichner, Leiter des Literaturhauses Berlin und Übersetzer von Cărtărescus Romanen aus dem Rumänischen, klar: Um die Frage "Hat Kultur noch einen Sinn?", mit der die Veranstaltung angekündigt wurde, werde es nun doch nicht gehen – "selbstverständlich hat Kultur einen Sinn, sonst säßen wir alle nicht hier." Stattdessen habe man sich geeinigt, gemeinsam einen Blick auf Europa zu werfen, von innen wie von außen.

Navid Kermani: "Europa ist eine Idee"

Die erste Frage geht an Mircea Cărtărescu: Wie steht Rumänien zur EU? Seit 200 Jahren hätten die Rumänen davon geträumt, Europäer zu sein, erwidert dieser. "Der Zeitpunkt, zu dem wir mit dem Beitritt in die EU in jeder Hinsicht zu Europa gestoßen sind, ist vielleicht der bedeutendste Moment unserer Geschichte." Eines möchte Cărtărescu ins Bewusstsein rufen: "Wir haben alle eine doppelte Staatsbürgerschaft: eine nationale und eine europäische. Es wäre wichtig, dass jeder Bürger Europas das versteht." Navid Kermani nickt, differenziert aber: Die nationale Staatsbürgerschaft werde vergeben, zur europäischen Staatsbürgerschaft müsse man sich bekennen. "Europa ist eine Idee, und eine Idee ist per se grenzenlos. Genau das macht sie so wertvoll."


Mircea Cărtărescu: "Durch Europa geht ein Graben"

Wie steht es derzeit um diese Idee? Cărtărescu ist besorgt: "Durch Europa geht ein Graben, der zwei Arten des Denkens trennt: das religiös-fundamentalistische auf der einen, die Verinnerlichung europäischer Werte auf der anderen Seite." Kritisch sieht er dabei in Rumänien, aber auch in anderen östlichen Ländern die Rolle der orthodoxen Kirche, die sich mit zunehmend illiberalen Tendenzen zu einer Propagandamaschine für Nationalisten entwickle: "Es ist möglich, dass eine Religion zu einer Belastung für eine Gesellschaft wird."

Europa als Gleichmachungsmaschine?

Kermani bestätigt "beunruhigende Entwicklungen" und plädiert für Ursachenforschung. Im 20. Jahrhundert habe es mit Nationalsozialismus und Kommunismus zwei Gleichmachungsideologien gegeben, unter denen die Menschen versucht hätten festzuhalten an dem, was sie hatten. "Europa wird nun von vielen als dritte Gleichmachungsmaschine wahrgenommen: Die Innenstädte gleichen einander immer mehr, das Typische verschwindet. Deshalb werden die Elemente wieder stark, die das Eigene betonen. Wir können an den orthodoxen Kirchen nichts ändern, aber daran, wie wir selbst handeln – und damit weniger Widerstand auslösen." Soviel stehe jedenfalls fest, so Kermani: "Europa kann nur gelingen, wenn wir an unserer Andersartigkeit festhalten."

Zum Schluss möchte er von Cărtărescu wissen, wie sich Rumänien entwickelt hätte, wäre das Land nicht in die Europäische Union aufgenommen worden. Das wolle er sich gar nicht vorstellen, antwortet Cărtărescu: „Es wäre eine Katastrophe gewesen.“