Nachwuchsparlament des Börsenvereins

Wie viele Bücher werden fertig gelesen?

23. Juni 2016
von Börsenblatt
Der Nachwuchs der Buchbranche hat getagt: Rund 100 Auszubildende, Studenten, Volontäre diskutierten heute in Leipzig-Schleußig über Leben und Arbeiten in der digitalen Welt, Meinungsfreiheit, Testlesen von Büchern – und erarbeitete Empfehlungen an die morgige Hauptversammlungen.

Mit kräftigem Applaus quittierten die Nachwuchsparlamentarier die Nachricht, dass sie – endlich! – nicht als letzter Tagesordnungspunkt der Hauptversammlung auftauchen und das Nachwuchsparlament in die Satzung des Börsenvereins aufgenommen werden soll. Wenn die Hauptversammlung morgen zustimmt, hat das jährliche Zittern, ob es die vielen Initiativen (auch währen des gesamten Jahres) weiter geben wird, ein Ende.

Wünsche an die Hauptversammlung

Bei der offenen Diskussion am Nachmittag wurde der Wunsch laut, zu überlegen, ob man auch unterjährig Gelegenheiten schafft, dass sich Azubis und Volontäre aus Verlagen und Buchhandlungen treffen – der Austausch wurde allgemein hoch bewertet. In Nordrhein-Westfalen und Bayern etwa laden bereits die Landesverbände zu einer eintägigen Schifffahrt mit Referenten ein. Auch der Wunsch, dass es verbindliche Ausbildungsstandards in der Branche gibt, an die sich die Unternehmen halten sollten, wurde ins Plenum getragen: „Warum gelingt es nicht, unter den Mitgliedern ein entsprechendes Bewusstsein zu schaffen?“, fragte eine Parlamentarierin und vermutete eher ein Nicht-Wollender Branche als ein Nicht-Können. An diesem Thema seien die Jungen Verlagsmenschen bereits dran und hätten auch Umfragen durchgeführt, wies Tony Stubenrauch, früher selbst Nachwuchssprecher, hin und ergänzte, dass der Ausschuss für Berufsbildung hier aktiv werden könnte. Da er auch in diesem Gremium sitzt, erklärte er sich bereit, das Thema dort anzusprechen.

Was vielen im Parlament unter den Nägeln brannte, war die Beschulung in Ortsnähe. „In Berlin gucken wir von Jahr zu Jahr, ob wir noch eine Buchhandelsklasse zusammenkriegen“, informierte ein Sortimenter und fragte: „Wie kann man die Betriebe so unterstützen, dass sie ihre Azubis in die Buchhandelsklassen der Berufsschulen schicken?“ Eine weitere Konzentration in Richtung Mediacampus Frankfurt und Internat Leipzig würde zu der Situation führen, dass weitere Buchhandelsklassen aufgelöst und mit Einzelhandelskaufleuten unterrichtet würden. Dann würden in vielen Buchhandlungen aus Kostengründen nicht mehr ausgebildet werden. „Bei mir wäre eine Ausbildung nicht möglich gewesen, wenn ich nicht in die Buchhandelsklasse der Julius-Springer-Schule in Heidelberg hätte gehen können“ war nicht das einzige Beispiel in dieser Richtung. Viele der Anwesenden wünschten eine Stärkung der lokalen Ausbildungsmöglichkeiten. Noch ein weiteres Problem wurde in diesem Zusammenhang genannt: dass die in den Schulen vermittelten Lerninhalte „einfach weit entfernt von den täglichen Anforderungen“ in der Buchhandlung seien. Die Idee, auch den Einsatz von E-Learning zu bedenken, konnten sich wiederum nicht viele vorstellen.

Natalie Sontopski und Julia Hoffmann, Gründungsmitglieder der Leipziger Code Girls und Autorinnen des Buchs „We love code! Das kleine 101 des Programmierens“ (Seemann Henschel) hielten die Key Note über „Leben und Arbeiten in der digitalen Welt“. Sie machten deutlich, dass das, was sich hinter Websites und Apps verbirgt, nicht nur für soziophobe Jungs interessant ist (im Buch klären sie dezidiert auf über Hardware, Software und Hackerpartys). Sie informierten über die technischen Möglichkeiten beim Lesen von E-Books, sahen es aber auch als einen Balanceakt, mit dem digital gewonnenen Wissen umzugehen: „Macht es Sinn, das dritte Kapitel eines Hemingway-Romans wegzulassen, nur weil man feststellt, dass es häufig übersprungen wird? Da würde man sich das Vertrauen der Leser ganz schnell verscherzen“. Auch beim Thema Selfpublishing wiesen sie neben der Vielfalt neuer Formen auf die Schattenseiten hin: „Wer liest die vielen unlektorierten und schlecht gemachten Bücher?“ Auch die Chancen  der aktuellen Entwicklungen (die Entdeckung neuer Autoren, crossmediales Storyteling, ergänzende Seiten mit Webdesign, Kooperationen, kuratierte Empfehlungen) wurden angerissen und Plattformen vorgestellt.

Interessante Beobachtung: Sontopski und Hoffmann wiesen auf das Phänomen hin, dass in den vergangenen Monaten on- wie offline verstärkt Bildstrecken zu Orten mit Büchern zu sehen seien, „die zehn schönsten Bibliotheken, die schönsten Buchhandlungen usw. – das fällt auf“. Offenbar gebe es einen Wunsch nach Haptik.

Neben dem Dauerbrennerthema Bezahlung („Wir müssen schließlich auch davon leben können“) wurden wiederholt auch die überzogenen Forderungen von Verlagen in ihren Stellenausschreibungen harsch kritisiert: „Wenn in einer solchen Ausschreibung neben Studium und Praktika zwei Volontariate in deutschen Verlagen Voraussetzung sein sollen – da stimmt etwas nicht“. Damit würde dem Prinzip eines langen Prekariats gezielt Vorschub geleistet. Hier wurde der Appell angedacht, die Verlage zu einer deutlich realistischeren Erwartungshaltung zu bewegen.

Verwunderlich auch für die Studierenden im Parlament, dass es noch wenig Kontakte zwischen Verlagen / Buchhandlungen und Hochschulen gibt. „Dabei gäbe es zig Ideen für buchbranchenrelevante Masterarbeiten, nur müsste man da zuvor eine Aufgeschlossenheit sowohl bei den Unis wie bei den Betrieben herstellen“, so Stimmen aus dem Plenum. Bei einzelnen Universitäten, auch das kam zutage, haben aber bereits erste Annäherungen stattgefunden und sind auch Masterarbeiten vergeben worden.

Schließlich wurde der Wunsch formuliert, dass der Nachwuchs die durch die Branchenreform geöffneten Strukturen nutzen kann: „Wir möchten gerne auch in den IGs mitmachen dürfen.“

Bei dem vom Berliner Nachwuchsnetzwerk NaNe organisierten Exkursionen mussten sich die Parlamentarier entscheiden, welchen der Leipziger Literaturorte sie unter die Lupe nehmen wollten: den Kinderbuchladen Serifee, die Bahnhofsbuchhandlung Ludwig, die Deutsche Nationalbibliothek, das Deutsche Literaturinstitut Leipzig, die Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK), die Edition Peters und Spector Books.

Großen Raum nahmen aber zuvor die inhaltlichen Auseinandersetzungen in verschiedenen Workshops im Internat des Deutschen Buchhandels in Leipzig ein:

Mit Social-Media-Bewerbungen zum Traumjob

Die AG Social Media hatte sich eine reale Annonce angeschaut und unterschiedlichste Ideen entwickelt: Wie kann man beim potenziellen Arbeitgeber überzeugen? Mit unterlegter Musik, Hashtags, Puzzleelementen etc. bauten die Teilnehmer das Grundgerüst eines Videos auf, das als Zusatz zur Bewerbung den Bewerber aus der Masse hervorheben kann.

Die Sichtbarkeit digitaler Inhalte

Die AG Digital hatte sich verschiedene Kanäle betrachtet. Beim Onlinebuchhandel gebe es zwar viele Möglichkeiten der Präsentation, aber es hapere fast immer am Budget, so die Einschätzung der Teilnehmer. Bei Kooperationspartnern gelte es, so Petra Wendler vom Gmeiner Verlag, eine Win-Win-Situation herzustellen und die inhaltliche Nähe der Produkte klar herauszuarbeiten.

 

Meinungsfreiheit zum Dauerthema – Gestaltung eines Onlineblogs

Eine weitere Arbeitsgruppe beschäftigte sich mit dem Thema Meinungsfreiheit. „Blogs gibt’s wie Sand am Meer – deshalb: Wie kann man klein und kostengünstig anfangen, um das Thema zu lancieren?“, war die Frage, die Stefanie Spiesecke (Mayersche Buchhandlung) formulierte. Die Idee: ein großes Werbeplakat in verschiedenen Städten, zunächst kostengünstig selbstgemalt, mit der Headline „Deine Meinung“: Dort können die Leute etwas drauf schreiben und setzen erst mal mit der leeren Fläche auseinander“. Nach einiger Zeit könnte man Plakate entsprechen drucken und dann Aktionswochen in einzelnen Städten zum Thema Meinungsvielfalt veranstalten, unter anderem mit der Frage „Wie gehen wir mit Zensur um, auch im Buchhandel?“

Dem Leser auf der Spur

Die AG E-Books hatte Jellybooks-Gründer Andrew Rhomberg als Gast eingeladen, der Einblicke gab, wie sein Tool Reader Analytics funktioniert. Werden denn die gekauften Bücher auch gelesen? lautete die Grundfrage, provokanter formuliert: Muss sich ein Verlag eigentlich darum kümmern, ob die Bücher gelesen werden? Verkauft ist verkauft…“ Das Start-up Reader Analytics  verwendet ePub3 (HTML5 + CSS3 +JavaScript) und bezieht den E-Book-Leser ein – „wir brauchen ja die Datenverbindung“, erläuterte Rhomberg. Wenn der Leser auf einen Link/Button drückt, wird eine Datenverbindung hergestellt.  Mit einem Klick werden die gesammelten Daten hochgeladen, sie kommen in einer riesigen URL an. Für Rhomberg zunächst überraschend: Der Klick auf den Button mache den Leuten Spaß, „sie freuen sich, wenn sie am Ende eines Buchs auf die Taste drücken können“. 40.000 haben bislang testgelesen.

Wie werden Testleser rekrutiert? Penguin Random House etwa hat einen Stamm von 3000 Testlesern, andere Verlage rekrutieren über E-Mail-Listen oder über soziale Medien, Ullstein lässt vorablesen, Piper nutzt Blogs etc. Die Testenden mögen nicht viel über sich preisgeben: „Es dürfen nur maximal zwei Fragen zur Person vorab kommen, männlich/weiblich – ok, bei der Frage nach ihrem Alter springen schon mal 5% der Leser wieder ab“, erläuterte Rhomberg.

Reader Analytics schaut sich im Wesentlichen drei Bereiche an:

  • die Fertiglesequote: Wird das Buch zu Ende gelesen?

Nach Kapiteln eingeteilt, kann man die Aktivitäten des Lesers beobachten, beim Fixed Layout kann man auch die Aktivität der Seite erkennen. Inhaltsverzeichnis, Impressum etc. schauen sich die Leser eigentlich nie an, bei den meisten Büchern entscheidet sich dann innerhalb der ersten 100 Seiten, ob der Leser fertig liest (bei Männer schon nach 30 bis 50 Seiten, „Männer entscheiden sich schneller“). Diskutiert wurde über die Aussagefähigkeit der Ergebnisse: Ist eine Fertiglesequote von beispielsweise 40 %nun gut oder nicht für ein Buch? Rhombergs bisherige Erkenntnis: „Nur die Hälfte aller E-Books werden fertig gelesen, das lässt allerdings keine Aussagen über die Fertiglesequote bei gedruckten Büchern zu.“ Die Wahrscheinlichkeit des Fertiglesens habe nichts damit zu tun, ob ein Buch teuer oder billig sei:. „Zeit ist wertvoller als der Preis für ein Buch“. Auch die Autoren spielten keine Rolle für die Entscheidung, weiter zu lesen: „Manche Bücher von Literaturnobelpreisträgern haben nur eine Fertiglesequote von 5 bis 10%“. Eine wichtige Rolle, wen wundert’s, spielt das Cover: Wenn sich die Leser vom Cover bestimmte Inhalte erwarten und die Erwartung nicht zutrifft, brechen sie ab.

  • die Lesegeschwindigkeit; Wie lange braucht der Leser für ein Kapitel?

Reader Analytics kann genau erkennen, wann und um welche Uhrzeit ein Leser wie lange gelesen hat; gezählt werden auch die Pausen pro Kapitel. Für einen im Feuilleton hochgelobten Roman brauchten die Leser häufig einen Monat und länger, für Sachbücher noch einmal mehr, für Liebesromane dagegen lediglich fünf bis sieben Tage, so Rhombergs Erfahrungen. „Weniger als 14 Tage ist für einen literarischen Roman schon schnell“. Die Fertiglesequote bei Wirtschaftsbüchern und Ratgebern sei nicht so hoch; die meisten hörten nach einem Drittel des Buchs auf.

  • die Empfehlungsquote: Würde der Leser das Buch weiter empfehlen?

Wichtigste Beobachtung hier: „Wer nicht fertig liest, empfiehlt zu 90% auch das Buch nicht weiter“, und: Sprache spielt eine entscheidende Rolle. „Es kommt darauf an, welche Wörter verwendet werden, eine eindeutige jugendliche Sprache etwa hat zur Folge, dass das Buch auch nur von Lesern unter 35 Jahren gelesen worden ist“ - wohingegen ein Young Adult-Roman mit völlig gewohnten Sprachebenen von älteren Lesern ungewohnt oft gelesen werde.

 

Welche Folgen haben nun gute oder schlechte Ergebnisse für einen Titel? Umgeschrieben werde kein Buch deswegen, beruhigte Rhomberg, es werde auch deswegen kein Titel nicht veröffentlicht, aber schlechte Daten führten durchaus dazu, dass er nur noch ein geringes Marketingbudget bekommt „Bei literarischen Titeln mit schlechten Daten bringt auch ein Marketingaufwand in der Regel nichts, da muss dann die Presseabteilung ran, man braucht Rezensionen, setzt auf Literaturpreise, wofür ja auch ein Aufwand vonnöten ist.“ Das Tool werde spannend, so die Meinung einiger Nachwuchsparlamentarier, wenn man damit das Marketingbudget steuern könne.

Verlage haben bislang größeres Interesse vor allem belletristischen Titeln aus dem Englischen – würden sie kaum fertiggelesen, würden die Verleger weniger für die Lizenzen zahlen. Interessant: Verlage wollten meist gar nicht, dass ihre Autoren erfahren, dass ein Buch von ihnen testgelesen wird. „Autoren möchten zwar gern gelesen werden – und wir sind ja das Gegenstück zum Applaus nach einem Theaterstück -, aber sie möchten auch gerne verkauft werden“, meinte Rhomberg; Autoren selbst seien auch meist nicht scharf darauf, vorab getestet zu werden: „Denn gelesen werden und verkauft werden ist nicht dasselbe.“