Neue Gedichtbände

Sprachmelodien

24. Mai 2017
von Stefan Hauck
Gedichte können alles: Sie katapultieren den Leser mit wenigen Zeilen in fremde Welten.Vor allem aber unterhalten sie mit Tiefgang. Deshalb gilt: unbedingt lesen.

"Man sollte alle Tage wenigstens
ein kleines Lied hören,
ein gutes Gedicht lesen,
ein treffliches Gemälde sehen und,
wenn es möglich zu machen wäre,
einige vernünftige Worte sprechen."
Jenen klugen Wunsch von Goethe erfüllt die Lyriksammlung "Alle Tage ein Gedicht" (Aufbau, 416 S., 22 Euro) aufs trefflichste: Hier purzeln die poetischen Gedanken nur so durcheinander. Da wird geküsst, geliebt, gehasst, beneidet, tauchen Landschaften und Träume auf, werden Intrigen gesponnen und Lebenszyklen durchmessen. Die Bandbreite reicht von Matthias Claudius bis ­Peter Hacks, und keineswegs geben sich nur tiefernste und rilkeschwere Verse die Hand: Bei Tucholsky und Busch darf man schmunzeln, bei Heine, Ringelnatz und Enzensberger lauthals lachen. Ein Vademecum für die Tasche.

Ein wahres Füllhorn an Gedichten bietet auch "Reclams Buch der deutschen Gedichte" (Reclam, 2 Bände, 998 S., 39 Euro): 750 Werke hat der Göttinger Literaturwissenschaftler Heinrich Detering (selbst Lyriker) ausgewählt und nach Dichtern geordnet, sodass der Leser ein Gespür für den Duktus des jeweiligen Autors bekommt, immer wieder aber auch über dessen Vielseitigkeit staunt. Deterings Kurz­biografien am Ende sind mehr als ein Anhang, nämlich erhellend. Die Zeitreise geht durch fast anderthalb Jahrtausende, von den Merseburger Zaubersprüchen bis zu Nora Bossong, und dazwischen finden sich alle, die sich mit Rang und Namen in den Lyrikkanon eingeschrieben haben. Ein Highlight ist Clemens Brentanos "Wenn der lahme Weber träumt, er webe, träumt die kranke Lerche auch, sie schwebe": 18 Zeilen mit wortmächtigen Bildern verdeutlichen, wie Lautmalerei und Versrhythmen beim Leser ein Auf und Ab der Gefühle bewirken können. Reclam hat die zwei Leinenbände mit Lesebändchen ausgestattet – und mit einem Schuber, der von der Leipziger Künstlerin Rosa Loy mit geflügelten Büchern und Lesenden gestaltet wurde.

Ganz auf Altmeister Goethe sowie auf ein einziges Thema konzentriert sich der von Ma­thias Mayer herausgegebene Band der Insel Bücherei "Goethes Monde. Gedichte und Zeichnungen" (Insel, September, 10 Euro). Nicht nur in "Willkommen und Abschied", dem Trennungs­gedicht für die Sesenheimer Pfarrerstochter Friederike Brion, spielt der Mond eine bedeutende Rolle bei Goethe, er hat sich dem Mond und seinem Licht auch unter naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten genähert. Erstaunlich, wie die Fokussierung auf ein Thema den Blick auf den Dichter verändern kann.

Internationaler wird es mit der Anthologie "Armeniens Herz. Gedichte ... und sonst nichts" (Größenwahn Verlag, 140 S., 16,90 Euro), in der 25 zeitgenössische Dichter ein Land von der Größe Brandenburgs mit 2,5 Millionen Einwohnern erschließen. Gänzlich andere Sprachmuster überraschen, es geht um Fragen der Tradition wie der Retraditionalisierung der Geschlechterrollen, das Gefühl, versprengte "Kinder der Sternendiaspora" zu sein, wie es Arewschat Awagjan beschreibt.

Viele Texte der Gedankenlyrik befassen sich mit den Themenkreisen Liebe und Natur – und der Leser erfährt einiges über das Leben der Menschen in einem Staat, der einen offiziellen Feiertag für Übersetzer hat.

Um Sprachverluste, Erinnerungsvermögen und Beileidsbriefe geht es in Franz Hohlers Buch "Alt?" (Luchterhand, 94 S., 16 Euro), in dem viele Fragen nach dem Vergangenen gestellt werden. Bewusst reiht Hohler in einem Poem die "Hätte ich nur"- und "Hätte ich nicht"-Überlegungen aneinander – eine Lebensbilanz, so wie auch die letzten Grüße an den Kollegen Urs Widmer und den Clown Dimitri. Ein Resümee auf höchstem Niveau, wie man es von Hohler kennt – dabei nie larmoyant, sondern bisweilen sogar voller Aufbruchstimmung.

Auch Tom Schulz nähert sich in "Die Verlegung der Stolpersteine" (Hanser Berlin, 128 S., 18 Euro) der Vergangenheit, er kreist um Dresden und Litauen, um die Flucht der Deportierten und die Verlegung von Stolpersteinen. Erinnerungen und Grenzen verschwimmen und fließen in die Gegenwart ein, kleine erzählerische Miniaturen, die Zeit zum Atemholen brauchen.

Ganz anders Dorothy Parker, bekannt durch ihren geschliffenen Wortwitz, der sich gar nicht so leicht übersetzen lässt: Höchstes Lob an Ulrich Blumenbach, trotzdem ist es gut, dass der Dörlemann Verlag in "Denn mein Herz ist frisch gebrochen" (400 S., 34 Euro) das englische Original neben die Übersetzung stellt. Hier dreht sich alles um zwischenmenschliche Beziehungen: zum Seufzen schön, sarkastisch beißend, intelligent und witzig: Lesen!