Shortlist-Abend im ausverkauften Schauspiel Frankfurt

"Einfach kommen und zuhören"

23. September 2018
von Börsenblatt
Vier von sechs Nominierten zum Deutschen Buchpreis 2018 lasen am Sonntagabend im Großen Saal des Schauspiels Frankfurt - vor ausverkauftem Haus, vor 700 begeisterten Zuhörerinnen und Zuhörern. Die Neugier auf Literatur und auf die, die sie schreiben, ist ungebrochen.

"Ein voller Saal, einfach kommen und zuhören wollen: Dass das immer noch so funktioniert, das ist doch ein sehr schönes, Hoffnung machendes Zeichen", stellte zu Beginn des Abends Frankfurts Kulturdezernentin Ina Hartwig fest. Nach ihrer Beobachtung erfährt die öffentliche Lesung "seit 15 Jahren eine Renaissance, die wirklich großartig ist".

Literaturhaus-Chef Hauke Hückstädt pflichtete Hartwig bei. Es gehe an einem Abend wie diesem um Annäherungen, um die Annäherung zwischen Autorinnen und Autoren und ihrem Publikum. Aber auch die Literatur selbst bemühe sich immer wieder um Annäherungen, an ihre Themen, an die Welt, an ein Begreifen. Hückstädt beglückwünschte, in Anspielung an den zeitgleichen TV-Krimi-Sonntagabend, alle, "die sich heute die Literatur als Tatort gewählt haben".

Neben seiner Freude über das große Interesse an den Shortlist-Nominierten und ihren Büchern gab Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins, in seinem Grußwort auch Politisches zu bedenken. Alle wesentlichen Debatten, politische wie gesellschaftliche, würden auch heute noch über Bücher angestoßen. Skipis erinnerte allerdings daran, dass jede Literaturproduktion auf die Geltung von Meinungsfreiheit angewiesen sei. Und er machte darauf aufmerksam, dass es um diese Meinungsfreiheit in vielen Ländern - etwa in der Türkei, in China, im arabischen Raum - schlecht bestellt sei. Dass dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bei seinem Deutschlandbesuch in der kommenden Woche vom Bundespräsidenten und der Bundeskanzlerin ein Staatsempfang bereitet werde, bezeichnete Skipis als "Schlag ins Gesicht der vielen willkürlich von diesem Despoten in der Türkei Inhaftierten". Und bekam im Schauspiel viel Beifall dafür.

Aber zu den Büchern selbst: Zum zweiten Mal auf die Shortlist hat es die junge Berliner Autorin Inger-Maria Mahlke geschafft, in diesem Jahr mit ihrem Teneriffa-Roman "Archipel", in dem sie - aus der Abgeschlossenheit der Inselperspektive - entlang der Figuren einer Familie die wechselhafte Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählt. Das Besondere: Der Roman beginnt in der Gegenwart und arbeitet sich in die Vergangenheit vor. Gefragt von der Moderatorin Sandra Kegel (FAZ), weshalb sie diese Rückwärtserzählweise gewählt habe, antwortete Mahlke: "aus Misstrauen gegenüber der Vermutung von Kausalität. Ich halte Kausalität bloß für eine Konstruktion. Es folgt nicht immer eins aus dem anderen." Vielmehr sei vieles, auch das Ich, etwas Kontingentes. Es hätte auch anders kommen können. Nicht kontingent war die Wahl des Ortes: Teneriffa sei die Insel ihrer Kindheit, bekannte die Autorin, deren Mutter Spanierin ist und die viele Sommer dort verbrachte, "in einer Art Gegenwelt zu der gutbürgerlichen westdeutschen Vorortlandschaft", in der sie sonst lebte.

Stephan Thome, der sogar schon zum dritten Mal unter die sechs Finalisten gekommen ist, legt diesmal ein ganz anderes Buch vor, als man es von dem Autor von "Grenzgang" (2009) und "Fliehkräfte" (2012) erwartet hätte: einen 720 Seiten starken Abenteuerroman "Gott der Barbaren". Der erzählt von einem der opferreichsten, blutigsten Bürgerkriege in der Geschichte der Menschheit, dem Taiping-Aufstand in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Und er erzählt das auf eine Weise, die viele Bezüge schafft zu den Krisen der Gegenwart, den religiösen Fanatismen, der Verführbarkeit von Menschen, dem Orientierungsverlust. Im Gespräch mit hr2-Literaturredakteur Alf Mentzer wurde deutlich, welch immense Rechercheleistung der China-Kenner Thome für diesen Roman erbracht hat, und wie nötig ein Schriftsteller dann seine Figuren hat, an denen erst die Fülle des Stoffes "herunterzufahren und erzählbar zu machen" sei, so Thome.

Wieder ein anderes, ganz besonderes Genre hat die Dritte im Reigen der Nominierten zur diesjährigen Shortlist beigesteuert: Susanne Röckel lieferte mit "Der Vogelgott" eine starke Horror-Geschichte ab. Dieser Gott, so Sandra Kegel einleitend, sei zugleich ein Teufel. In dem Buch, das machte das Gespräch mit der Autorin schnell deutlich, geht es um böse, destruktive Kräfte. "Aber die kommen nicht von außen", erläuterte Röckel, "die kommen aus uns selbst." Das Buch folge einem ehernen Gesetz des Genres: "Es ist ja nicht Fantasy, es ist eine Horror-Geschichte, da hat keine Gegenmacht etwas zu bestellen. Es gibt keinen Ausweg." So entwickelt sich aus dem Sakrileg eines Wissenschaftlers das Unabwendbare, erklärt die Autorin: "Die Natur schlägt zurück."

Zum Abschluss des Abends im Schaupielhaus gehörte der in Buenos Aires geborenen María Cecilia Barbetta die Bühne. Mit "Nachtleuchten", ihrem zweiten Roman, der zurückführt in das Buenos Aires der 1970er Jahre, genauer in das Viertel Ballester, erzählt Barbetta von einem Land voller politischer Spannungen und Zerreißproben, und sie tut dies, wie sie selbst es beschreibt, "vom Rand her, aus den Perspektiven der kleinen Leute in ihren Mikrokosmen". Das kann eine katholische Mädchenschule sein, ein Friseursalon oder auch eine Autowerkstatt mit dem lustigen Namen "Autopia". Für die seit mehr als 20 Jahren in Berlin lebende Schriftstellerin hat das Spiel mit Sprache - das ist in "Nachtleuchten" auf bald jeder Seite fühlbar - eine besondere Bedeutung. Im Gespräch mit der Literaturkritikerin Insa Wilke berichtete Barbetta zur Freude ihres Frankfurter Publikums, wie das mit ihr und dem Deutschen damals in Buenos Aires angefangen habe: vor einem deutschsprachigen Kindergarten nämlich, in den ihre Eltern sie schickten. Davor am ersten Tag zwei Frauen in einem für das Kind unverständlichen Gespräch. Darauf die Kleine zur Mutter: "Mama, sie streiten sich." Dann Mama zur Tochter: "Nein, sie streiten sich nicht. Sie sprechen Deutsch." Kein ganz gewöhnlicher Beginn der Liebe zu einer Sprache, in der das staunende Kind von einst heute ganze Romane verfasst.