Starke französischsprachige Romane zum Gastlandauftritt

Eine Sprache, viele Seiten

17. August 2017
von Börsenblatt
Wenn sich Frankreich im Herbst auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert, dann spielen geografische Grenzen keine Rolle: Denn französischsprachige Literatur ist global. Ein Best-of der frisch übersetzten Bücher – ausgewählt von der Redaktion.

Sprache, Macht, Intrigen
Binet erfindet ein schrilles Krimi-­Szenario im Milieu der Pariser Poststrukturalisten der 80er Jahre. Das Opfer: Roland Barthes, überrollt von einem Wäscherei-Lieferwagen. Unfall oder Mordkomplott? Die Ermittlungen führen über die Uni Paris-Vincennes in den Élysée, nach Bologna, in die USA. Im Fokus steht die französische In­tellektuellen- und Politszene, die den Diskurs dieser Epoche geprägt hat – von Foucault, Derrida und Deleuze bis hin zu Eco. Jeder ist verdächtig. sb

Laurent Binet: "Die siebte Sprachfunktion", Rowohlt, 528 S., 22,95 €

Phantastische Vision
Den großen Einzelgänger der französischen Lite­ratur, Julien Gracq, entdeckt seit Jahren der Droschl Verlag für deutsche Leser. Jetzt ist der unvollendete Roman "Das Abendreich" erschienen – die phantastische Vision einer friedfertigen, überregulierten Gesellschaft, die von Barbaren im Osten bedroht wird. Der Erzähler bricht mit einigen Getreuen auf, um der Gefahr zu begegnen. roe

Julien Gracq: "Das Abendreich", Droschl Verlag, 224 S., 23 €

Was ist französisch?
Von Barthes und Prévert über Houellebecq bis zu Catherine Millet und Plantu sind die wichtigen Autoren vertreten: 52 Auszüge aus Romanen, Chansons, Essays, Briefen, Dramen, Debatten und Tagebüchern spiegeln die aktuellen Stimmungen und Konflikte in Frankreich. hc

Olga Mannheimer (Hrsg.): "Blau Weiß Rot. Frankreich erzählt", dtv, 352 S., 16,90 €

Turbulenzen
Seit 1980 lebt die aus dem Iran stam­mende Drehbuchautorin und Regisseurin Négar Djavadi im westlichen Exil (heute in Paris). In ihrem auto­biografischen Debütroman erzählt ihr Alter Ego Kimia Sadr vor dem Hintergrund von Schwangerschaftsturbulen­zen die Geschichte ihrer Familie – mit allen tragischen, aber auch vielen komischen Momenten. Das Buch wurde in Frankreich zum Bestseller und ist inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt worden. roe

Négar Djavadi: "Desorientale", C. H. Beck, September, 400 S., 22,95 €

Hartnäckiges Auflehnen
Die Atmosphäre der französischen Provinz um 1908 mit ihren Konventionen fängt de Récondo bis in den Schreibstil perfekt ein: Victoire, gefangen in einer arrangierten Ehe, lehnt ihren Mann ab. Der wiederum steigt dem Dienstmädchen Céleste nach, das als Opfer alles über sich ergehen lässt. Célestes Schwangerschaft bringt die Wende: Victoire gibt das Kind als ihres aus und verliebt sich in Céleste. Das Glück kämpft gegen das Schicksal und der Roman mit einem dramatischen Ende. hc

Léonor de Récondo: "Amours", Dörlemann, 240 S., 20 €

Träumerische Kuriositäten
Mal streift er durch ein Kaufhaus, mal bringt er seine Frau um: Perecs über vier Jahre geführtes Traumtagebuch offenbart viele Facetten des Unbewussten. Knappe Bestandsaufnahmen sind ebenso vertreten wie detaillierte Geschichten, deren Wendungen unverhofft kommen. nh

Georges Perec: "Die dunkle Kammer. 124 Träume", Diaphanes, 256 S., 24 €

Mehr Dichtung als Wahrheit
In der Bibliothek der abgelehnten Manuskripte entdeckt eine junge Lektorin den Text eines toten bretonischen Pizza­bäckers: Der Medienhype lässt den Roman zum Bestseller werden. Foenkinos blickt tief hinter die Kulissen des Literaturbetriebs und lässt in einem Reigen zwischenmenschliche Beziehungen und Amouren durch­einanderpurzeln – die Erwartungen sind stets größer als die Wirklichkeit. hc

David Foenkinos: "Das geheime Leben des Monsieur Pick", DVA, 336 S., 19,99 €

Kritische Wut
Riboulets Ich–Erzähler gibt seine ­Geschichte aus den Jahren 1972 bis 1978 wieder – changierend zwischen wüten­dem politischen Pamphlet angesichts der Geschehnisse in Europa und der persönlichen Erfahrung seiner Homosexualität; stilistisch eigenwillig, verdichtet und teils sehr explizit. Nach Louis' "Das Ende von Eddy" und Eribons "Rückkehr nach Reims" kann man die Lektüre zu politi­scher und sexueller Rebel­lion hiermit sehr gut fortsetzen. mls

Mathieu Riboulet: "Und dazwischen nichts", Matthes & Seitz, 218 S., 20 €

Familienchronik
Vier Generationen umfasst der Rückblick des Ich-Erzählers: ein Versuch, durch Erinnerungen Gemeinsamkeiten herzustellen und seine Familie zu erfassen. Trotzig arbeitet sich Carl am Vater ab, der die Familie mit kommunistischer Ideologie bis in den letzten Alltagswinkel durchdrungen hat. Tragische Momente – angefangen bei der Flucht des Koblenzer Urgroßvaters – gibt es viele in ­dieser Chronik, deren Figuren permanente Befreiungsschläge hin zum persönlichen Glück wagen. hc

Carl Aderhold: "Die Roten", Arche, 384 S., 24 €

Knistern mit Humor
Sie ist Schauspielerin, er Schriftsteller – und beide sind einsam. Er als Single, sie in ihrer Beziehung. In Paris treffen die Britin und der Amerikaner aufein-ander, und voilà – schon sind wir mitten in der Liebesgeschichte, angenehm unschwülstig und in typischer Levy-Manier erzählt. Die (mögliche) Verfilmung hat man beim Lesen schon vor Augen. mls

Marc Levy: "Er & Sie. Eine Liebe in Paris", Blanvalet, 352 S., 14,99 €

Aus der Tradition ausbrechen
Nach Ende des Vietnamkriegs flieht die Ich-Erzählerin Bao Vi ("winzige Kostbarkeit") als Achtjährige mit ihren Brüdern per Boot – ihren abgöttisch geliebten, aber lethargischen Mann lässt die Mutter zurück. In Kanada bauen sie sich ein neues Leben auf, erst später kehrt Vi als Rechtsanwältin für ein Projekt in ein ihr fremdes Vietnam zurück. Vi schildert die unterschiedlichen Liebesgeschichten in ihrer Familie und ihre eigenen – einfühlsam und poetisch. mg

Kim Thúy: "Die vielen Namen der Liebe", Kunstmann, 144 S., 18 Euro

Wege in den Fanatismus
Laroui gibt Einblicke in die Welt der marokkani­schen Einwanderer, zeigt den Weg der Entfremdung und Fanatisierung des weltoffenen Ingenieurs Ali in hermetische islamische Gedankengebäude – und das Gegenmodell der Integration bei seiner Freundin Malika. Dazu kommentiert der Erzähler die dialogstarken filmähnlichen Szenen und kontrastiert sie mit historischen Rückblenden, ­seziert und zerpflückt Worte: ein bedrückendes Lehrstück. hc

Fouad Laroui: "Im aussichtslosen Kampf zwischen dir und der Welt", Merlin, September, 280 S., 24 €

Der Welt überdrüssig
Die Suche nach Sinn und dem eigenen Platz in der Welt, das Wesen von Kunst und des Künstlers an sich stehen im Mittelpunkt dieses wiederentdeckten impressionistischen Romans von 1892. In der Figur des Malers Lucien ist unschwer Vincent van Gogh zu erkennen, den Mirbeau gut kannte und dessen Bilder er äußerst passioniert beschreibt. hc

Octave Mirbeau: "Diese verdammte Hand", Weidle, 184 S., 20 €

Emotional überleben
Ein Roman von 1937, neu entdeckt: Elisa liebt ihren Mann Gilles voller Hingabe, auch dann noch, als er ihr untreu wird – mit ihrer jüngeren Schwes­ter. Geduldig wartet sie, hilft ihm sogar, verliert darüber aber sich selbst, ihre Liebe zu Gilles, ihren Halt. Gefangen in dieser inneren Leere, flieht sie in die Katastrophe. Die Leser bleiben atemlos zurück. tw

Madeleine Bourdouxhe: "Gilles' Frau", Wagenbach, 160 S., 12 €

Hunger auf mehr
Typografisch (!) wie stilis­tisch spielt Divry mit den Formen, erzählt von der sich zuspitzenden Ausweglosigkeit einer jungen Kreativen, die mit vier Euro am Tag dem Hunger Paroli bietet und sich in ihrer Fantasie mit ihren Romanfiguren gegen die Wirklichkeit auflehnt – eine herbe Gesellschaftskritik voller literarischer Anspielungen. hc

Sophie Divry: "Als der Teufel aus dem Badezimmer kam", Ullstein, September, 272 S., 21 €

Leichtfüßige Dialogregie
Yasmina Reza ist eine Frau des Theaters, auch als Schriftstellerin. In ihrem gerade erschienenen Roman »Babylon« treibt eine scheinbar leichfüßige, handwerklich perfektionierte Dialogregie einen tragischen Konflikt voran. Die Erzählerin Elisabeth freundet sich mit ihrem Nachbarn Jean-Lino an, der nach einer Party im Streit seine Frau erwürgt. Als sie ihm dabei helfen will, die Leiche zu beseitigen, läuft sie Gefahr, in die Tat verwickelt zu werden. roe

Yasmina Reza: "Babylon", Hanser Verlag, 224 S., 22 €

Beunruhigend
Zweifelsohne einer der stärk­sten Romane dieses Herbstes, der aufwühlt und dazu zwingt, Position zu beziehen. Seite für Seite nimmt der Ich-Erzähler den Leser mit nach Burundi, aus der Perspektive des Harmonie suchenden Kindes schildert der Sohn eines Franzosen und einer Ruanderin den sich zuspitzenden Streit zwischen Ethnien und politischen Richtungen, die Gewalt im Alltag, Bürgerkrieg und Völkermord – hautnah und erdrückend. So sehr er auch den Ausgleich zwischen den Seiten sucht: Es ist nicht möglich, über den Dingen zu stehen und unbeteiligt zu sein. hc

Gaël Faye: "Kleines Land", Piper, Oktober, 224 S., 20 €

Die Rezensenten
Sibylle Bartscher (sb), Matthias Glatthor (mg), Stefan Hauck (hc), Naomi Hoffmann (nh), Karin Meburger (mb), Michael Roesler-Graichen (roe), Marie-Luise Schrader (mls), Tamara Weise (tw)